schen den Punkten, die geraden und die geschweiften Linien. Aber die Punkte und Linien, die er macht, beziehen sich weder auf Schooß noch Rückenstück, sondern auf das Gesicht des Vaters sel- ber, dessen markirtes Profil er, wie einen scharf gegebenen Schat- tenriß, in aller Deutlichkeit vor sich hat. Den vorspringenden Stirnbuckel, die römisch geschwungene Nase, den tiefen Mundwin- kel, Alles hat er getroffen -- und einen Augenblick haftet der Blick des Knaben an dem Bilde, als freue er sich seiner Schöpfung. Da aber klingt es "Gottfried" vom Arbeitstische her und das Klappern eines Deckelkruges begleitet den strengen Ruf des Vaters. Die Hand des Knaben, als fühl' er sich auf einem Unrecht er- tappt, fährt rasch über Tafel und Zeichnung hin; dann springt er auf und, gehorsam den Krug nehmend, den ihm der Vater entge- gen hält, eilt er hinaus, um ihn draußen am Brunnen zu füllen.
Das war im Sommer 1770. Rasch wechseln Zeit und Ort; statt der 70er Jahre des vorigen, liegen die 40er Jahre dieses Jahrhunderts vor uns, und statt in die Schneiderstube zu Saalow, blicken wir in den Actsaal des Berliner Akademie-Gebäudes. Die Schüler sind bereits versammelt, ein helles Lampenlicht fällt von oben her auf die Tische, und Alles scheint Ernst und Aufmerk- samkeit; denn der "Alte" ist eben eingetreten, um nach dem Rechten zu sehen. Der Alte, ein Achtziger, knochig, breitschultrig, so recht ein Mann aus dem Vollen, schreitet langsam von Platz zu Platz, von Bank zu Bank; nur dann und wann bleibt er stehen und blickt musternd über die Schulter des Zeichnenden. "Det is jut", sagt er zu dem Einen und klopft ihm, zum Zeichen des Beifalls, mit seiner mächtigen Handfläche auf den Kopf; "det is nischt", sagt er zu dem Anderen und geht weiter. Ein Dritter müht sich eben, die Umrisse einer menschlichen Figur auf dem Papiere festzu- halten; aber die Linien sind nicht sicher gezogen und die Propor- tionen sind falsch. Der Alte heißt ihn aufstehen, nimmt Platz auf dem leer gewordenen Stuhl und sagt dann lakonisch: "Pass' uff, ick mach' det so." Dabei nimmt er dem Schüler den Kreidestift aus der Hand, tupft Punkte mit fester Hand auf das graue, grob-
ſchen den Punkten, die geraden und die geſchweiften Linien. Aber die Punkte und Linien, die er macht, beziehen ſich weder auf Schooß noch Rückenſtück, ſondern auf das Geſicht des Vaters ſel- ber, deſſen markirtes Profil er, wie einen ſcharf gegebenen Schat- tenriß, in aller Deutlichkeit vor ſich hat. Den vorſpringenden Stirnbuckel, die römiſch geſchwungene Naſe, den tiefen Mundwin- kel, Alles hat er getroffen — und einen Augenblick haftet der Blick des Knaben an dem Bilde, als freue er ſich ſeiner Schöpfung. Da aber klingt es „Gottfried“ vom Arbeitstiſche her und das Klappern eines Deckelkruges begleitet den ſtrengen Ruf des Vaters. Die Hand des Knaben, als fühl’ er ſich auf einem Unrecht er- tappt, fährt raſch über Tafel und Zeichnung hin; dann ſpringt er auf und, gehorſam den Krug nehmend, den ihm der Vater entge- gen hält, eilt er hinaus, um ihn draußen am Brunnen zu füllen.
Das war im Sommer 1770. Raſch wechſeln Zeit und Ort; ſtatt der 70er Jahre des vorigen, liegen die 40er Jahre dieſes Jahrhunderts vor uns, und ſtatt in die Schneiderſtube zu Saalow, blicken wir in den Actſaal des Berliner Akademie-Gebäudes. Die Schüler ſind bereits verſammelt, ein helles Lampenlicht fällt von oben her auf die Tiſche, und Alles ſcheint Ernſt und Aufmerk- ſamkeit; denn der „Alte“ iſt eben eingetreten, um nach dem Rechten zu ſehen. Der Alte, ein Achtziger, knochig, breitſchultrig, ſo recht ein Mann aus dem Vollen, ſchreitet langſam von Platz zu Platz, von Bank zu Bank; nur dann und wann bleibt er ſtehen und blickt muſternd über die Schulter des Zeichnenden. „Det is jut“, ſagt er zu dem Einen und klopft ihm, zum Zeichen des Beifalls, mit ſeiner mächtigen Handfläche auf den Kopf; „det is niſcht“, ſagt er zu dem Anderen und geht weiter. Ein Dritter müht ſich eben, die Umriſſe einer menſchlichen Figur auf dem Papiere feſtzu- halten; aber die Linien ſind nicht ſicher gezogen und die Propor- tionen ſind falſch. Der Alte heißt ihn aufſtehen, nimmt Platz auf dem leer gewordenen Stuhl und ſagt dann lakoniſch: „Paſſ’ uff, ick mach’ det ſo.“ Dabei nimmt er dem Schüler den Kreideſtift aus der Hand, tupft Punkte mit feſter Hand auf das graue, grob-
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ſchen den Punkten, die geraden und die geſchweiften Linien. Aber
die Punkte und Linien, die er macht, beziehen ſich weder auf
Schooß noch Rückenſtück, ſondern auf das Geſicht des Vaters ſel-
ber, deſſen markirtes Profil er, wie einen ſcharf gegebenen Schat-
tenriß, in aller Deutlichkeit vor ſich hat. Den vorſpringenden
Stirnbuckel, die römiſch geſchwungene Naſe, den tiefen Mundwin-
kel, Alles hat er getroffen — und einen Augenblick haftet der
Blick des Knaben an dem Bilde, als freue er ſich ſeiner Schöpfung.
Da aber klingt es „Gottfried“ vom Arbeitstiſche her und das
Klappern eines Deckelkruges begleitet den ſtrengen Ruf des Vaters.
Die Hand des Knaben, als fühl’ er ſich auf einem Unrecht er-
tappt, fährt raſch über Tafel und Zeichnung hin; dann ſpringt er
auf und, gehorſam den Krug nehmend, den ihm der Vater entge-
gen hält, eilt er hinaus, um ihn draußen am Brunnen zu füllen.
Das war im Sommer 1770. Raſch wechſeln Zeit und Ort;
ſtatt der 70er Jahre des vorigen, liegen die 40er Jahre dieſes
Jahrhunderts vor uns, und ſtatt in die Schneiderſtube zu Saalow,
blicken wir in den Actſaal des Berliner Akademie-Gebäudes. Die
Schüler ſind bereits verſammelt, ein helles Lampenlicht fällt von
oben her auf die Tiſche, und Alles ſcheint Ernſt und Aufmerk-
ſamkeit; denn der „Alte“ iſt eben eingetreten, um nach dem
Rechten zu ſehen. Der Alte, ein Achtziger, knochig, breitſchultrig,
ſo recht ein Mann aus dem Vollen, ſchreitet langſam von Platz zu Platz,
von Bank zu Bank; nur dann und wann bleibt er ſtehen und
blickt muſternd über die Schulter des Zeichnenden. „Det is jut“,
ſagt er zu dem Einen und klopft ihm, zum Zeichen des Beifalls,
mit ſeiner mächtigen Handfläche auf den Kopf; „det is niſcht“,
ſagt er zu dem Anderen und geht weiter. Ein Dritter müht ſich
eben, die Umriſſe einer menſchlichen Figur auf dem Papiere feſtzu-
halten; aber die Linien ſind nicht ſicher gezogen und die Propor-
tionen ſind falſch. Der Alte heißt ihn aufſtehen, nimmt Platz auf
dem leer gewordenen Stuhl und ſagt dann lakoniſch: „Paſſ’ uff,
ick mach’ det ſo.“ Dabei nimmt er dem Schüler den Kreideſtift
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der erste Band "Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow" 1862 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg01_1862/442>, abgerufen am 23.11.2024.
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