Strohdächer mit Storchennest und schief stehendem Schornstein überhoben den Besucher, trotz der zwei Bürgermeister, die Wer- neuchen damals besaß, der heiklen Frage, ob "Dorf, ob Stadt." Keine uniformirte Schützengilde paradirte mit Sang und Klang durch die Straßen, und wenn draußen in Wald oder Feld ein Schuß fiel, so wußte man, daß es die Büchse des Försters sei, der am Gamen-Grund, wo der Weg nach Freienwalde hin ab- zweigt, sein in Tannen geborgenes Häuschen hatte.
Keine Schützengilde gab es damals, auch keinen Veteranen- Verein (denn all die Schlachten, die zwischen Groß-Görschen und Belle-Alliance liegen, waren noch ungeschlagen); aber etwas An- deres gab es dafür im Dorf, eine Curiosität, eine Restchen Vehm- gericht, das sich aus unvordenklicher Zeit, allen Einflüssen des nivellirenden vorigen Jahrhunderts zum Trotz, an diesem stillen Ort erhalten hatte. Dies Vehmgericht im Kleinen war die soge- nannte "Wröh." Zu festgesetzten Zeiten (aber nur im Sommer) versammelten sich die Bürger-Bauern des Orts auf einem von alten Linden überschatteten Platz, der ziemlich in der Mitte zwischen dem Pfarrhaus und der Kirchhofsmauer lag. Unter den Bäumen dieses Platzes, nach der Kirchhofs-Seite zu, lagen vier große ab- geplattete Feldsteine, die man durch aufgelegte Bretter zu eben so vielen Bänken machte, wenn eine "Wröh" abgehalten werden sollte. Was in alten Zeiten in diesen Geschwornen-Gerichten be- sprochen und bestimmt wurde, ob jemals ein Werneuchener Bürger- Bauer das bekannte Messer in den Baum am Kreuzweg gebohrt hat oder nicht, wird nie mehr zur Kunde der Nachwelt gelangen, unsere Kenntniß über die Sitzungen der Werneuchener "Wröh" datirt erst aus den unromantischen Zeiten des Allgemeinen Land- rechts her, wo ganz Werneuchen und natürlich auch die "Wröh" unter die stille Superintendenz eines Magistrats und zweier Bürgermeister gekommen war. Die Gerichtsbarkeit der "Wröh" war eine enge geworden und beschränkte sich darauf, in wöchent- lichen oder monatlichen Sitzungen den Schadenersatz festzustellen, den das Vieh des einen Bürgers oder Bauern den Feldern oder
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Strohdächer mit Storchenneſt und ſchief ſtehendem Schornſtein überhoben den Beſucher, trotz der zwei Bürgermeiſter, die Wer- neuchen damals beſaß, der heiklen Frage, ob „Dorf, ob Stadt.“ Keine uniformirte Schützengilde paradirte mit Sang und Klang durch die Straßen, und wenn draußen in Wald oder Feld ein Schuß fiel, ſo wußte man, daß es die Büchſe des Förſters ſei, der am Gamen-Grund, wo der Weg nach Freienwalde hin ab- zweigt, ſein in Tannen geborgenes Häuschen hatte.
Keine Schützengilde gab es damals, auch keinen Veteranen- Verein (denn all die Schlachten, die zwiſchen Groß-Görſchen und Belle-Alliance liegen, waren noch ungeſchlagen); aber etwas An- deres gab es dafür im Dorf, eine Curioſität, eine Reſtchen Vehm- gericht, das ſich aus unvordenklicher Zeit, allen Einflüſſen des nivellirenden vorigen Jahrhunderts zum Trotz, an dieſem ſtillen Ort erhalten hatte. Dies Vehmgericht im Kleinen war die ſoge- nannte „Wröh.“ Zu feſtgeſetzten Zeiten (aber nur im Sommer) verſammelten ſich die Bürger-Bauern des Orts auf einem von alten Linden überſchatteten Platz, der ziemlich in der Mitte zwiſchen dem Pfarrhaus und der Kirchhofsmauer lag. Unter den Bäumen dieſes Platzes, nach der Kirchhofs-Seite zu, lagen vier große ab- geplattete Feldſteine, die man durch aufgelegte Bretter zu eben ſo vielen Bänken machte, wenn eine „Wröh“ abgehalten werden ſollte. Was in alten Zeiten in dieſen Geſchwornen-Gerichten be- ſprochen und beſtimmt wurde, ob jemals ein Werneuchener Bürger- Bauer das bekannte Meſſer in den Baum am Kreuzweg gebohrt hat oder nicht, wird nie mehr zur Kunde der Nachwelt gelangen, unſere Kenntniß über die Sitzungen der Werneuchener „Wröh“ datirt erſt aus den unromantiſchen Zeiten des Allgemeinen Land- rechts her, wo ganz Werneuchen und natürlich auch die „Wröh“ unter die ſtille Superintendenz eines Magiſtrats und zweier Bürgermeiſter gekommen war. Die Gerichtsbarkeit der „Wröh“ war eine enge geworden und beſchränkte ſich darauf, in wöchent- lichen oder monatlichen Sitzungen den Schadenerſatz feſtzuſtellen, den das Vieh des einen Bürgers oder Bauern den Feldern oder
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Strohdächer mit Storchenneſt und ſchief ſtehendem Schornſtein
überhoben den Beſucher, trotz der zwei Bürgermeiſter, die Wer-
neuchen damals beſaß, der heiklen Frage, ob „Dorf, ob Stadt.“
Keine uniformirte Schützengilde paradirte mit Sang und Klang
durch die Straßen, und wenn draußen in Wald oder Feld ein
Schuß fiel, ſo wußte man, daß es die Büchſe des Förſters ſei,
der am Gamen-Grund, wo der Weg nach Freienwalde hin ab-
zweigt, ſein in Tannen geborgenes Häuschen hatte.
Keine Schützengilde gab es damals, auch keinen Veteranen-
Verein (denn all die Schlachten, die zwiſchen Groß-Görſchen und
Belle-Alliance liegen, waren noch ungeſchlagen); aber etwas An-
deres gab es dafür im Dorf, eine Curioſität, eine Reſtchen Vehm-
gericht, das ſich aus unvordenklicher Zeit, allen Einflüſſen des
nivellirenden vorigen Jahrhunderts zum Trotz, an dieſem ſtillen
Ort erhalten hatte. Dies Vehmgericht im Kleinen war die ſoge-
nannte „Wröh.“ Zu feſtgeſetzten Zeiten (aber nur im Sommer)
verſammelten ſich die Bürger-Bauern des Orts auf einem von
alten Linden überſchatteten Platz, der ziemlich in der Mitte zwiſchen
dem Pfarrhaus und der Kirchhofsmauer lag. Unter den Bäumen
dieſes Platzes, nach der Kirchhofs-Seite zu, lagen vier große ab-
geplattete Feldſteine, die man durch aufgelegte Bretter zu eben ſo
vielen Bänken machte, wenn eine „Wröh“ abgehalten werden
ſollte. Was in alten Zeiten in dieſen Geſchwornen-Gerichten be-
ſprochen und beſtimmt wurde, ob jemals ein Werneuchener Bürger-
Bauer das bekannte Meſſer in den Baum am Kreuzweg gebohrt
hat oder nicht, wird nie mehr zur Kunde der Nachwelt gelangen,
unſere Kenntniß über die Sitzungen der Werneuchener „Wröh“
datirt erſt aus den unromantiſchen Zeiten des Allgemeinen Land-
rechts her, wo ganz Werneuchen und natürlich auch die „Wröh“
unter die ſtille Superintendenz eines Magiſtrats und zweier
Bürgermeiſter gekommen war. Die Gerichtsbarkeit der „Wröh“
war eine enge geworden und beſchränkte ſich darauf, in wöchent-
lichen oder monatlichen Sitzungen den Schadenerſatz feſtzuſtellen,
den das Vieh des einen Bürgers oder Bauern den Feldern oder
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der erste Band "Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow" 1862 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. [Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin. Der Barnim. Der Teltow]. Berlin, 1862, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg01_1862/293>, abgerufen am 24.11.2024.
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