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Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911.

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6 FISCHER:


Allerdings dauerte es längere Zeit, bis die Folgerungen der neuen Theorie
einer ausgedehnten experimentellen Prüfung unterworfen wurden, bis sie
in Mode kam, wie man zu sagen pflegt. Aber die organische Chemie
bot zu jener Zeit ohnedies schon eine so große Fülle von Aufgaben, daß
alle Hände auf Jahre hinaus beschäftigt waren. Zudem wird die Expe-
rimentalforschung nicht, wie mancher denkt, ausschließlich oder vorzugs-
weise durch die Theorien gelenkt. Ich bin im Gegenteil der Meinung,
daß sie mehr von den Methoden und den ihr zur Verfügung stehenden mate-
riellen Hilfsmitteln abhängig ist. Man kann Versuche anstellen ohne jede vor-
gefaßte Meinung, sobald man Instrumente und Materialien zur Hand hat,
und mancher ausgezeichnete Naturforscher ist allen Theorien zum Trotz
ausgezogen auf freie Entdeckungsfahrt, ähnlich einem Jagdhund, nur seiner
Nase folgend, wie es der Chemiker Priestley im 18. Jahrhundert seinen
Fachgenossen dringend empfohlen hat.
Aber sobald es sich um systematische Bearbeitung großer Gebiete und
um die bequeme Ordnung zahlreicher Beobachtungen handelt, sind die
Theorien ebenfalls unentbehrlich. Das hat sich auch bei der Stereochemie
gezeigt. Ihr Nutzen trat immer deutlicher zutage, als die organischen
Chemiker sich entschlossen, die schwierigen Kapitel der Terpene, der
hydroaromatischen Substanzen, der Kohlenhydrate, der Proteine, wo es sich
um zahlreiche feine Isomerien und meistens um optisch aktive Substanzen
handelt, systematisch zu studieren.
Was van't Hoff an der Hand seines Modells auch für solche kom-
plizierten Fälle inbezug auf Konfiguration, optisches Drehungsvermögen,
Anzahl der Formen usw. vorausgeschaut, ist dann in geradezu staunen-
erregender Weise bestätigt worden.
Von dem ursprünglichen Gedanken, die Strukturchemie ins Sterische
überzuleiten, kann man wohl sagen, daß er in der Luft gelegen habe;
denn J. Wislicenus ist energisch dafür eingetreten, und A. v. Baeycr
hat mir öfters erzählt, daß er 4 Jahre vor van't Hoffs Publikation mit
dem Kekuleschen Modell die Moleküle der von ihm entdeckten isomeren
Hydromellithsäuren ganz im Sinne der heutigen Stereochemie aufgebaut,
aber nicht den Mut gehabt habe, die Zeichnungen seiner Abhandlung über
diese Körper einzureihen.
Selbst die Idee des asymmetrischen Kohlenstoffatoms ist gleichzeitig
in einem anderen Kopf, bei dem französischen Chemiker J. A. Le Bel, ent-


6 FISCHER:


Allerdings dauerte es längere Zeit, bis die Folgerungen der neuen Theorie
einer ausgedehnten experimentellen Prüfung unterworfen wurden, bis sie
in Mode kam, wie man zu sagen pflegt. Aber die organische Chemie
bot zu jener Zeit ohnedies schon eine so große Fülle von Aufgaben, daß
alle Hände auf Jahre hinaus beschäftigt waren. Zudem wird die Expe-
rimentalforschung nicht, wie mancher denkt, ausschließlich oder vorzugs-
weise durch die Theorien gelenkt. Ich bin im Gegenteil der Meinung,
daß sie mehr von den Methoden und den ihr zur Verfügung stehenden mate-
riellen Hilfsmitteln abhängig ist. Man kann Versuche anstellen ohne jede vor-
gefaßte Meinung, sobald man Instrumente und Materialien zur Hand hat,
und mancher ausgezeichnete Naturforscher ist allen Theorien zum Trotz
ausgezogen auf freie Entdeckungsfahrt, ähnlich einem Jagdhund, nur seiner
Nase folgend, wie es der Chemiker Priestley im 18. Jahrhundert seinen
Fachgenossen dringend empfohlen hat.
Aber sobald es sich um systematische Bearbeitung großer Gebiete und
um die bequeme Ordnung zahlreicher Beobachtungen handelt, sind die
Theorien ebenfalls unentbehrlich. Das hat sich auch bei der Stereochemie
gezeigt. Ihr Nutzen trat immer deutlicher zutage, als die organischen
Chemiker sich entschlossen, die schwierigen Kapitel der Terpene, der
hydroaromatischen Substanzen, der Kohlenhydrate, der Proteine, wo es sich
um zahlreiche feine Isomerien und meistens um optisch aktive Substanzen
handelt, systematisch zu studieren.
Was vanʼt Hoff an der Hand seines Modells auch für solche kom-
plizierten Fälle inbezug auf Konfiguration, optisches Drehungsvermögen,
Anzahl der Formen usw. vorausgeschaut, ist dann in geradezu staunen-
erregender Weise bestätigt worden.
Von dem ursprünglichen Gedanken, die Strukturchemie ins Sterische
überzuleiten, kann man wohl sagen, daß er in der Luft gelegen habe;
denn J. Wislicenus ist energisch dafür eingetreten, und A. v. Baeycr
hat mir öfters erzählt, daß er 4 Jahre vor vanʼt Hoffs Publikation mit
dem Kekuleschen Modell die Moleküle der von ihm entdeckten isomeren
Hydromellithsäuren ganz im Sinne der heutigen Stereochemie aufgebaut,
aber nicht den Mut gehabt habe, die Zeichnungen seiner Abhandlung über
diese Körper einzureihen.
Selbst die Idee des asymmetrischen Kohlenstoffatoms ist gleichzeitig
in einem anderen Kopf, bei dem französischen Chemiker J. A. Le Bel, ent-

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[8/0008] 6 FISCHER: Allerdings dauerte es längere Zeit, bis die Folgerungen der neuen Theorie einer ausgedehnten experimentellen Prüfung unterworfen wurden, bis sie in Mode kam, wie man zu sagen pflegt. Aber die organische Chemie bot zu jener Zeit ohnedies schon eine so große Fülle von Aufgaben, daß alle Hände auf Jahre hinaus beschäftigt waren. Zudem wird die Expe- rimentalforschung nicht, wie mancher denkt, ausschließlich oder vorzugs- weise durch die Theorien gelenkt. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß sie mehr von den Methoden und den ihr zur Verfügung stehenden mate- riellen Hilfsmitteln abhängig ist. Man kann Versuche anstellen ohne jede vor- gefaßte Meinung, sobald man Instrumente und Materialien zur Hand hat, und mancher ausgezeichnete Naturforscher ist allen Theorien zum Trotz ausgezogen auf freie Entdeckungsfahrt, ähnlich einem Jagdhund, nur seiner Nase folgend, wie es der Chemiker Priestley im 18. Jahrhundert seinen Fachgenossen dringend empfohlen hat. Aber sobald es sich um systematische Bearbeitung großer Gebiete und um die bequeme Ordnung zahlreicher Beobachtungen handelt, sind die Theorien ebenfalls unentbehrlich. Das hat sich auch bei der Stereochemie gezeigt. Ihr Nutzen trat immer deutlicher zutage, als die organischen Chemiker sich entschlossen, die schwierigen Kapitel der Terpene, der hydroaromatischen Substanzen, der Kohlenhydrate, der Proteine, wo es sich um zahlreiche feine Isomerien und meistens um optisch aktive Substanzen handelt, systematisch zu studieren. Was vanʼt Hoff an der Hand seines Modells auch für solche kom- plizierten Fälle inbezug auf Konfiguration, optisches Drehungsvermögen, Anzahl der Formen usw. vorausgeschaut, ist dann in geradezu staunen- erregender Weise bestätigt worden. Von dem ursprünglichen Gedanken, die Strukturchemie ins Sterische überzuleiten, kann man wohl sagen, daß er in der Luft gelegen habe; denn J. Wislicenus ist energisch dafür eingetreten, und A. v. Baeycr hat mir öfters erzählt, daß er 4 Jahre vor vanʼt Hoffs Publikation mit dem Kekuleschen Modell die Moleküle der von ihm entdeckten isomeren Hydromellithsäuren ganz im Sinne der heutigen Stereochemie aufgebaut, aber nicht den Mut gehabt habe, die Zeichnungen seiner Abhandlung über diese Körper einzureihen. Selbst die Idee des asymmetrischen Kohlenstoffatoms ist gleichzeitig in einem anderen Kopf, bei dem französischen Chemiker J. A. Le Bel, ent-

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Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, OCR-D: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-03-04T12:13:05Z)

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Zitationshilfe: Fischer, Emil: Gedächtnisrede auf Jacobus Henricus van’t Hoff. Berlin, 1911, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fischer_hoff_1911/8>, abgerufen am 23.11.2024.