die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen Beständigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Gestaltungen, in dem ganzen Reichthum ihrer Erscheinungsweisen, von dieser so unwiderleglich wirklichen Welt zu sagen, sie sei nicht nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandensein unseres Bewußtseins gebunden, sondern ihr gesammtes Sein bestehe aus nichts anderem als aus den ewig wechselnden, entstehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬ brochene sinnlich-geistige Thätigkeit unseres Bewußtseins aufweise. Indessen wer sich auf den gesunden Menschen¬ verstand beruft, sollte bedenken, daß die Sphäre desselben nicht die Wahrheit, sondern das Compromiß ist. Die Ge¬ wißheit der Wirklichkeit ist keine auf Gründen ruhende Ueberzeugung, sondern ein hergebrachter Glaube. Wenn man aufgehört hat, an die absolute Realität der gegen¬ ständlichen Welt zu glauben, so glaubt man an das Vor¬ handensein einer als Vorstellung gegebenen Welt. Dieser Glaube genügt so gut wie jener vollkommen zum praktischen Leben, und sogar zu dem größten Theil der theoretischen Be¬ schäftigungen. Das skeptische Nachdenken muß aber diesen Glauben so gut zerstören wie jenen. Die verlorene Ge¬ wißheit muß auf andere Weise wieder gewonnen werden; denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬ langen kann, der auf dem Punkt gestanden hat, wo sich ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬ zulösen schien.
Erst wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit oder als Vorstellung gegebene Welt als einen Irrthum
die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen Beſtändigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Geſtaltungen, in dem ganzen Reichthum ihrer Erſcheinungsweiſen, von dieſer ſo unwiderleglich wirklichen Welt zu ſagen, ſie ſei nicht nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandenſein unſeres Bewußtſeins gebunden, ſondern ihr geſammtes Sein beſtehe aus nichts anderem als aus den ewig wechſelnden, entſtehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬ brochene ſinnlich-geiſtige Thätigkeit unſeres Bewußtſeins aufweiſe. Indeſſen wer ſich auf den geſunden Menſchen¬ verſtand beruft, ſollte bedenken, daß die Sphäre deſſelben nicht die Wahrheit, ſondern das Compromiß iſt. Die Ge¬ wißheit der Wirklichkeit iſt keine auf Gründen ruhende Ueberzeugung, ſondern ein hergebrachter Glaube. Wenn man aufgehört hat, an die abſolute Realität der gegen¬ ſtändlichen Welt zu glauben, ſo glaubt man an das Vor¬ handenſein einer als Vorſtellung gegebenen Welt. Dieſer Glaube genügt ſo gut wie jener vollkommen zum praktiſchen Leben, und ſogar zu dem größten Theil der theoretiſchen Be¬ ſchäftigungen. Das ſkeptiſche Nachdenken muß aber dieſen Glauben ſo gut zerſtören wie jenen. Die verlorene Ge¬ wißheit muß auf andere Weiſe wieder gewonnen werden; denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬ langen kann, der auf dem Punkt geſtanden hat, wo ſich ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬ zulöſen ſchien.
Erſt wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit oder als Vorſtellung gegebene Welt als einen Irrthum
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0057"n="45"/>
die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen<lb/>
Beſtändigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Geſtaltungen, in<lb/>
dem ganzen Reichthum ihrer Erſcheinungsweiſen, von dieſer<lb/>ſo unwiderleglich wirklichen Welt zu ſagen, ſie ſei nicht<lb/>
nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandenſein<lb/>
unſeres Bewußtſeins gebunden, ſondern ihr geſammtes Sein<lb/>
beſtehe aus nichts anderem als aus den ewig wechſelnden,<lb/>
entſtehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬<lb/>
brochene ſinnlich-geiſtige Thätigkeit unſeres Bewußtſeins<lb/>
aufweiſe. Indeſſen wer ſich auf den geſunden Menſchen¬<lb/>
verſtand beruft, ſollte bedenken, daß die Sphäre deſſelben<lb/>
nicht die Wahrheit, ſondern das Compromiß iſt. Die Ge¬<lb/>
wißheit der Wirklichkeit iſt keine auf Gründen ruhende<lb/>
Ueberzeugung, ſondern ein hergebrachter Glaube. Wenn<lb/>
man aufgehört hat, an die abſolute Realität der gegen¬<lb/>ſtändlichen Welt zu glauben, ſo glaubt man an das Vor¬<lb/>
handenſein einer als Vorſtellung gegebenen Welt. Dieſer<lb/>
Glaube genügt ſo gut wie jener vollkommen zum praktiſchen<lb/>
Leben, und ſogar zu dem größten Theil der theoretiſchen Be¬<lb/>ſchäftigungen. Das ſkeptiſche Nachdenken muß aber dieſen<lb/>
Glauben ſo gut zerſtören wie jenen. Die verlorene Ge¬<lb/>
wißheit muß auf andere Weiſe wieder gewonnen werden;<lb/>
denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬<lb/>
langen kann, der auf dem Punkt geſtanden hat, wo ſich<lb/>
ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬<lb/>
zulöſen ſchien.</p><lb/><p>Erſt wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit<lb/>
oder als Vorſtellung gegebene Welt als einen Irrthum<lb/></p></div></body></text></TEI>
[45/0057]
die uns umgiebt und uns überdauert in ihrer materiellen
Beſtändigkeit, in der ganzen Fülle ihrer Geſtaltungen, in
dem ganzen Reichthum ihrer Erſcheinungsweiſen, von dieſer
ſo unwiderleglich wirklichen Welt zu ſagen, ſie ſei nicht
nur in der Möglichkeit des Seins an das Vorhandenſein
unſeres Bewußtſeins gebunden, ſondern ihr geſammtes Sein
beſtehe aus nichts anderem als aus den ewig wechſelnden,
entſtehenden und vergehenden Formen, welche die ununter¬
brochene ſinnlich-geiſtige Thätigkeit unſeres Bewußtſeins
aufweiſe. Indeſſen wer ſich auf den geſunden Menſchen¬
verſtand beruft, ſollte bedenken, daß die Sphäre deſſelben
nicht die Wahrheit, ſondern das Compromiß iſt. Die Ge¬
wißheit der Wirklichkeit iſt keine auf Gründen ruhende
Ueberzeugung, ſondern ein hergebrachter Glaube. Wenn
man aufgehört hat, an die abſolute Realität der gegen¬
ſtändlichen Welt zu glauben, ſo glaubt man an das Vor¬
handenſein einer als Vorſtellung gegebenen Welt. Dieſer
Glaube genügt ſo gut wie jener vollkommen zum praktiſchen
Leben, und ſogar zu dem größten Theil der theoretiſchen Be¬
ſchäftigungen. Das ſkeptiſche Nachdenken muß aber dieſen
Glauben ſo gut zerſtören wie jenen. Die verlorene Ge¬
wißheit muß auf andere Weiſe wieder gewonnen werden;
denn es gilt, daß nur derjenige zu wahrer Gewißheit ge¬
langen kann, der auf dem Punkt geſtanden hat, wo ſich
ihm alles Sein in Trug, alle Gewißheit in Zweifel auf¬
zulöſen ſchien.
Erſt wenn wir den Glauben an eine in Wirklichkeit
oder als Vorſtellung gegebene Welt als einen Irrthum
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/57>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.