neu entsteht, daß wir mit Anderen nicht in derselben Welt leben, sondern daß jeder in einer anderen Welt lebt, ja daß für den Einzelnen die Welt eines Augenblicks nicht dieselbe irgend eines anderen Augenblicks sein kann.
War durch die Einsicht in den relativen Charakter alles Seins die Wirklichkeit, die uns so unabhängig gegen¬ überzustehen schien, aufgelöst worden in eine Wirklichkeit, deren Sein nur durch unsere Vorstellung möglich wurde, so erscheint nun durch die Einsicht in die Unmöglichkeit der Existenz von Vorstellungen als vorhandener geistiger Bestandtheile unseres Bewußtseins auch die Wirklichkeit als Vorstellung aufgelöst in ein unendlich mannichfaches und ewig wechselndes Geschehen, dessen Schauplatz unser sinnlicher Organismus ist. Hatten wir auf die Frage, wo nun eigentlich die Wirklichkeit sei, antworten müssen, in unseren Vorstellungen: so müssen wir auf die weitere Frage, wo nun diese Vorstellungen sind, antworten: sie sind als dauernde Gebilde überhaupt nicht nachweisbar, ihr Sein besteht in einem Entstehen und Vergehen.
Es ist gewiß nicht leicht, diese Consequenz zuzugeben. Man mag sich der Einsicht fügen, daß in uns selbst eine der Bedingungen liegt, von denen das Vorhandensein alles dessen abhängt, was sich als seiend darstellt. Damit scheint an und für sich der Charakter des Seins als eines dauern¬ den Zustandes nicht aufgehoben. Aber es muß dem so¬ genannten gesunden Menschenverstande doch nahezu absurd vorkommen, angesichts der uns umgebenden Wirklichkeit, von der wir selbst nur ein so verschwindender Theil sind,
neu entſteht, daß wir mit Anderen nicht in derſelben Welt leben, ſondern daß jeder in einer anderen Welt lebt, ja daß für den Einzelnen die Welt eines Augenblicks nicht dieſelbe irgend eines anderen Augenblicks ſein kann.
War durch die Einſicht in den relativen Charakter alles Seins die Wirklichkeit, die uns ſo unabhängig gegen¬ überzuſtehen ſchien, aufgelöſt worden in eine Wirklichkeit, deren Sein nur durch unſere Vorſtellung möglich wurde, ſo erſcheint nun durch die Einſicht in die Unmöglichkeit der Exiſtenz von Vorſtellungen als vorhandener geiſtiger Beſtandtheile unſeres Bewußtſeins auch die Wirklichkeit als Vorſtellung aufgelöſt in ein unendlich mannichfaches und ewig wechſelndes Geſchehen, deſſen Schauplatz unſer ſinnlicher Organismus iſt. Hatten wir auf die Frage, wo nun eigentlich die Wirklichkeit ſei, antworten müſſen, in unſeren Vorſtellungen: ſo müſſen wir auf die weitere Frage, wo nun dieſe Vorſtellungen ſind, antworten: ſie ſind als dauernde Gebilde überhaupt nicht nachweisbar, ihr Sein beſteht in einem Entſtehen und Vergehen.
Es iſt gewiß nicht leicht, dieſe Conſequenz zuzugeben. Man mag ſich der Einſicht fügen, daß in uns ſelbſt eine der Bedingungen liegt, von denen das Vorhandenſein alles deſſen abhängt, was ſich als ſeiend darſtellt. Damit ſcheint an und für ſich der Charakter des Seins als eines dauern¬ den Zuſtandes nicht aufgehoben. Aber es muß dem ſo¬ genannten geſunden Menſchenverſtande doch nahezu abſurd vorkommen, angeſichts der uns umgebenden Wirklichkeit, von der wir ſelbſt nur ein ſo verſchwindender Theil ſind,
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neu entſteht, daß wir mit Anderen nicht in derſelben Welt
leben, ſondern daß jeder in einer anderen Welt lebt, ja
daß für den Einzelnen die Welt eines Augenblicks nicht
dieſelbe irgend eines anderen Augenblicks ſein kann.
War durch die Einſicht in den relativen Charakter
alles Seins die Wirklichkeit, die uns ſo unabhängig gegen¬
überzuſtehen ſchien, aufgelöſt worden in eine Wirklichkeit,
deren Sein nur durch unſere Vorſtellung möglich wurde,
ſo erſcheint nun durch die Einſicht in die Unmöglichkeit
der Exiſtenz von Vorſtellungen als vorhandener geiſtiger
Beſtandtheile unſeres Bewußtſeins auch die Wirklichkeit
als Vorſtellung aufgelöſt in ein unendlich mannichfaches
und ewig wechſelndes Geſchehen, deſſen Schauplatz unſer
ſinnlicher Organismus iſt. Hatten wir auf die Frage, wo
nun eigentlich die Wirklichkeit ſei, antworten müſſen, in
unſeren Vorſtellungen: ſo müſſen wir auf die weitere
Frage, wo nun dieſe Vorſtellungen ſind, antworten: ſie
ſind als dauernde Gebilde überhaupt nicht nachweisbar,
ihr Sein beſteht in einem Entſtehen und Vergehen.
Es iſt gewiß nicht leicht, dieſe Conſequenz zuzugeben.
Man mag ſich der Einſicht fügen, daß in uns ſelbſt eine
der Bedingungen liegt, von denen das Vorhandenſein alles
deſſen abhängt, was ſich als ſeiend darſtellt. Damit ſcheint
an und für ſich der Charakter des Seins als eines dauern¬
den Zuſtandes nicht aufgehoben. Aber es muß dem ſo¬
genannten geſunden Menſchenverſtande doch nahezu abſurd
vorkommen, angeſichts der uns umgebenden Wirklichkeit,
von der wir ſelbſt nur ein ſo verſchwindender Theil ſind,
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/56>, abgerufen am 16.07.2024.
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