Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬
keit zu entwickeln, und in immer sich steigerndem Ausdruck
Natur als ein Sichtbares sich anzueignen? Dann aber
ist es doch der Künstler allein, der den Künstler begreifen
kann; dann sprechen die Künstler eine Sprache, die Nie¬
mand verstehen kann außer ihnen, weil nur sie die Fähig¬
keit besitzen, sie zu sprechen! Dann ist die Kunst, an der
mehr als an etwas anderem alle Menschen ihr Recht
geltend machen, eine Geheimschrift, zu der nur Wenige
den Schlüssel haben, während die Anderen sich mehr oder
weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn
zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß
man von vornherein darauf verzichten, daß Kunst etwas
Allgemeinverständliches sein könne. Dieses Gebiet mensch¬
licher Leistungen, welches so offen vor Aller Blicken zu
liegen scheint, ist thatsächlich einem großen Theil der
Menschen vollständig verschlossen. Denn wo sich in der
Zusammensetzung der individuellen Natur das Bedürfniß
nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtsein, sofern es auf
den Wahrnehmungen des Gesichtssinnes beruht, zu höheren
Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der künst¬
lerischen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo
die Natur versagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung
helfen. Ja wo es zu einem Gegenstand der Bemühung,
der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬
ziehung zur Kunst zu setzen, während die natürliche Be¬
dingung zur Entstehung eines solchen Verhältnisses nicht
gegeben ist, da gewinnen begreiflicherweise alle die Ver¬

ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬
keit zu entwickeln, und in immer ſich ſteigerndem Ausdruck
Natur als ein Sichtbares ſich anzueignen? Dann aber
iſt es doch der Künſtler allein, der den Künſtler begreifen
kann; dann ſprechen die Künſtler eine Sprache, die Nie¬
mand verſtehen kann außer ihnen, weil nur ſie die Fähig¬
keit beſitzen, ſie zu ſprechen! Dann iſt die Kunſt, an der
mehr als an etwas anderem alle Menſchen ihr Recht
geltend machen, eine Geheimſchrift, zu der nur Wenige
den Schlüſſel haben, während die Anderen ſich mehr oder
weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn
zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß
man von vornherein darauf verzichten, daß Kunſt etwas
Allgemeinverſtändliches ſein könne. Dieſes Gebiet menſch¬
licher Leiſtungen, welches ſo offen vor Aller Blicken zu
liegen ſcheint, iſt thatſächlich einem großen Theil der
Menſchen vollſtändig verſchloſſen. Denn wo ſich in der
Zuſammenſetzung der individuellen Natur das Bedürfniß
nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtſein, ſofern es auf
den Wahrnehmungen des Geſichtsſinnes beruht, zu höheren
Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der künſt¬
leriſchen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo
die Natur verſagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung
helfen. Ja wo es zu einem Gegenſtand der Bemühung,
der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬
ziehung zur Kunſt zu ſetzen, während die natürliche Be¬
dingung zur Entſtehung eines ſolchen Verhältniſſes nicht
gegeben iſt, da gewinnen begreiflicherweiſe alle die Ver¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0154" n="142"/>
ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬<lb/>
keit zu entwickeln, und in immer &#x017F;ich &#x017F;teigerndem Ausdruck<lb/>
Natur als ein Sichtbares &#x017F;ich anzueignen? Dann aber<lb/>
i&#x017F;t es doch der Kün&#x017F;tler allein, der den Kün&#x017F;tler begreifen<lb/>
kann; dann &#x017F;prechen die Kün&#x017F;tler eine Sprache, die Nie¬<lb/>
mand ver&#x017F;tehen kann außer ihnen, weil nur &#x017F;ie die Fähig¬<lb/>
keit be&#x017F;itzen, &#x017F;ie zu &#x017F;prechen! Dann i&#x017F;t die Kun&#x017F;t, an der<lb/>
mehr als an etwas anderem alle Men&#x017F;chen ihr Recht<lb/>
geltend machen, eine Geheim&#x017F;chrift, zu der nur Wenige<lb/>
den Schlü&#x017F;&#x017F;el haben, während die Anderen &#x017F;ich mehr oder<lb/>
weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn<lb/>
zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß<lb/>
man von vornherein darauf verzichten, daß Kun&#x017F;t etwas<lb/>
Allgemeinver&#x017F;tändliches &#x017F;ein könne. Die&#x017F;es Gebiet men&#x017F;ch¬<lb/>
licher Lei&#x017F;tungen, welches &#x017F;o offen vor Aller Blicken zu<lb/>
liegen &#x017F;cheint, i&#x017F;t that&#x017F;ächlich einem großen Theil der<lb/>
Men&#x017F;chen voll&#x017F;tändig ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Denn wo &#x017F;ich in der<lb/>
Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung der individuellen Natur das Bedürfniß<lb/>
nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußt&#x017F;ein, &#x017F;ofern es auf<lb/>
den Wahrnehmungen des Ge&#x017F;ichts&#x017F;innes beruht, zu höheren<lb/>
Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der kün&#x017F;<lb/>
leri&#x017F;chen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo<lb/>
die Natur ver&#x017F;agt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung<lb/>
helfen. Ja wo es zu einem Gegen&#x017F;tand der Bemühung,<lb/>
der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬<lb/>
ziehung zur Kun&#x017F;t zu &#x017F;etzen, während die natürliche Be¬<lb/>
dingung zur Ent&#x017F;tehung eines &#x017F;olchen Verhältni&#x017F;&#x017F;es nicht<lb/>
gegeben i&#x017F;t, da gewinnen begreiflicherwei&#x017F;e alle die Ver¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0154] ergriffen fühlt von jenem Drange, das Sehen zur Thätig¬ keit zu entwickeln, und in immer ſich ſteigerndem Ausdruck Natur als ein Sichtbares ſich anzueignen? Dann aber iſt es doch der Künſtler allein, der den Künſtler begreifen kann; dann ſprechen die Künſtler eine Sprache, die Nie¬ mand verſtehen kann außer ihnen, weil nur ſie die Fähig¬ keit beſitzen, ſie zu ſprechen! Dann iſt die Kunſt, an der mehr als an etwas anderem alle Menſchen ihr Recht geltend machen, eine Geheimſchrift, zu der nur Wenige den Schlüſſel haben, während die Anderen ſich mehr oder weniger kindlich an ihr vergnügen, ohne den wahren Sinn zu ahnen, der in ihr verborgen liegt! Und freilich muß man von vornherein darauf verzichten, daß Kunſt etwas Allgemeinverſtändliches ſein könne. Dieſes Gebiet menſch¬ licher Leiſtungen, welches ſo offen vor Aller Blicken zu liegen ſcheint, iſt thatſächlich einem großen Theil der Menſchen vollſtändig verſchloſſen. Denn wo ſich in der Zuſammenſetzung der individuellen Natur das Bedürfniß nicht vorfindet, das Wirklichkeitsbewußtſein, ſofern es auf den Wahrnehmungen des Geſichtsſinnes beruht, zu höheren Formen zu entwickeln, da fehlt jede Möglichkeit, der künſt¬ leriſchen Thätigkeit auf ihren Wegen zu folgen. Und wo die Natur verſagt, da kann kein Bemühen, keine Belehrung helfen. Ja wo es zu einem Gegenſtand der Bemühung, der Belehrung gemacht wird, den Einzelnen in eine Be¬ ziehung zur Kunſt zu ſetzen, während die natürliche Be¬ dingung zur Entſtehung eines ſolchen Verhältniſſes nicht gegeben iſt, da gewinnen begreiflicherweiſe alle die Ver¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/154
Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/154>, abgerufen am 22.11.2024.