die Bilder, die Erinnerung und Einbildungskraft uns vor¬ führen, gehören ebensowenig dem reinen Element der Sicht¬ barkeit an; sie stehen mitten in dem wechselvollen Spiel all der unzähligen Elemente unseres geistigen Lebens, die, in geheimnißvollem Zusammenhang unter einander ver¬ bunden, sich gegenseitig an die Oberfläche des Bewußtseins rufen. Es ist, als ob die Sichtbarkeit der Dinge, solange sie sich zu keiner höheren Daseinsform entwickelt, als ihr in den Wahrnehmungen des Auges, in den inneren Ge¬ bilden unserer Vorstellungskraft zukommt, nicht die Macht besäße, sich so sehr des menschlichen Bewußtseins zu be¬ mächtigen, daß sie nicht in jedem Augenblicke verdrängt werden könnte und irgend einem anderweitigen sinnlich¬ geistigen Vorgang den Platz räumen müßte. So werden wir durch die Erlebnisse des Gesichtssinnes zunächst nicht in ein ausschließliches Reich der Sichtbarkeit eingeführt, vielmehr müssen wir den Antheil an der Sichtbarkeit der Dinge theilen mit allen den Ansprüchen, deren Befriedigung nun einmal die Vielseitigkeit und Versatilität der mensch¬ lichen Natur fordert. Und dann: auch wenn es uns vorübergehend gelingt, das Interesse des Sehens, des Sichtbar-Vorstellens zur ausschließlichen Herrschaft in uns zu bringen, die sichtbare Erscheinung der Dinge gleichsam loszulösen von allem, was die Dinge sonst sind und be¬ deuten, sie als etwas uns zum Bewußtsein zu bringen, dem ein selbstständiges Dasein zukäme, so gelangen wir dadurch, wie schon oben bemerkt, nur in einen traumhaften Zustand; dadurch, daß sich uns gleichsam die ganze Sub¬
die Bilder, die Erinnerung und Einbildungskraft uns vor¬ führen, gehören ebenſowenig dem reinen Element der Sicht¬ barkeit an; ſie ſtehen mitten in dem wechſelvollen Spiel all der unzähligen Elemente unſeres geiſtigen Lebens, die, in geheimnißvollem Zuſammenhang unter einander ver¬ bunden, ſich gegenſeitig an die Oberfläche des Bewußtſeins rufen. Es iſt, als ob die Sichtbarkeit der Dinge, ſolange ſie ſich zu keiner höheren Daſeinsform entwickelt, als ihr in den Wahrnehmungen des Auges, in den inneren Ge¬ bilden unſerer Vorſtellungskraft zukommt, nicht die Macht beſäße, ſich ſo ſehr des menſchlichen Bewußtſeins zu be¬ mächtigen, daß ſie nicht in jedem Augenblicke verdrängt werden könnte und irgend einem anderweitigen ſinnlich¬ geiſtigen Vorgang den Platz räumen müßte. So werden wir durch die Erlebniſſe des Geſichtsſinnes zunächſt nicht in ein ausſchließliches Reich der Sichtbarkeit eingeführt, vielmehr müſſen wir den Antheil an der Sichtbarkeit der Dinge theilen mit allen den Anſprüchen, deren Befriedigung nun einmal die Vielſeitigkeit und Verſatilität der menſch¬ lichen Natur fordert. Und dann: auch wenn es uns vorübergehend gelingt, das Intereſſe des Sehens, des Sichtbar-Vorſtellens zur ausſchließlichen Herrſchaft in uns zu bringen, die ſichtbare Erſcheinung der Dinge gleichſam loszulöſen von allem, was die Dinge ſonſt ſind und be¬ deuten, ſie als etwas uns zum Bewußtſein zu bringen, dem ein ſelbſtſtändiges Daſein zukäme, ſo gelangen wir dadurch, wie ſchon oben bemerkt, nur in einen traumhaften Zuſtand; dadurch, daß ſich uns gleichſam die ganze Sub¬
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die Bilder, die Erinnerung und Einbildungskraft uns vor¬
führen, gehören ebenſowenig dem reinen Element der Sicht¬
barkeit an; ſie ſtehen mitten in dem wechſelvollen Spiel
all der unzähligen Elemente unſeres geiſtigen Lebens, die,
in geheimnißvollem Zuſammenhang unter einander ver¬
bunden, ſich gegenſeitig an die Oberfläche des Bewußtſeins
rufen. Es iſt, als ob die Sichtbarkeit der Dinge, ſolange
ſie ſich zu keiner höheren Daſeinsform entwickelt, als ihr
in den Wahrnehmungen des Auges, in den inneren Ge¬
bilden unſerer Vorſtellungskraft zukommt, nicht die Macht
beſäße, ſich ſo ſehr des menſchlichen Bewußtſeins zu be¬
mächtigen, daß ſie nicht in jedem Augenblicke verdrängt
werden könnte und irgend einem anderweitigen ſinnlich¬
geiſtigen Vorgang den Platz räumen müßte. So werden
wir durch die Erlebniſſe des Geſichtsſinnes zunächſt nicht
in ein ausſchließliches Reich der Sichtbarkeit eingeführt,
vielmehr müſſen wir den Antheil an der Sichtbarkeit der
Dinge theilen mit allen den Anſprüchen, deren Befriedigung
nun einmal die Vielſeitigkeit und Verſatilität der menſch¬
lichen Natur fordert. Und dann: auch wenn es uns
vorübergehend gelingt, das Intereſſe des Sehens, des
Sichtbar-Vorſtellens zur ausſchließlichen Herrſchaft in uns
zu bringen, die ſichtbare Erſcheinung der Dinge gleichſam
loszulöſen von allem, was die Dinge ſonſt ſind und be¬
deuten, ſie als etwas uns zum Bewußtſein zu bringen,
dem ein ſelbſtſtändiges Daſein zukäme, ſo gelangen wir
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/139>, abgerufen am 19.07.2024.
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