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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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Frage sich beantworten lassen, und es muss eine Wis-
senschaft geben, in der sie beantwortet wird; und giebt
es eine solche Wissenschaft, so hat unser Wissen einen
Grund. Es lässt sich demnach über die Gründlichkeit
oder Grundlosigkeit unsers Wissens vor der Untersu-
chung vorher nichts sagen; und die Möglichkeit der
geforderten Wissenschaft lässt sich nur durch ihre
Wirklichkeit darthun.

Die Benennung einer solchen Wissenschaft, deren
Möglichkeit bis jetzt bloss problematisch ist, ist willkür-
lich. Wenn sich jedoch zeigen sollte, dass der Boden,
der nach aller bisherigen Erfahrung für den Anbau der
Wissenschaften brauchbar ist, durch die ihm zugehöri-
gen bereits besetzt sey, und dass sich nur noch ein un-
angebautes Stück Land zeige, nemlich das für die Wis-
senschaft der Wissenschaften überhaupt; -- Wenn sich
ferner unter einem bekannten Namen (dem der Philo-
sophie) die Idee einer Wissenschaft vorfände, welche
doch auch Wissenschaft seyn oder werden will, und
welche über den Platz, wo sie sich anbauen soll, mit
sich nicht einig werden kann: so wäre es nicht un-
schicklich, ihr den aufgefundenen leeren Platz anzu-
weisen. Ob man sich bisher bei dem Worte Philoso-
phie eben das gedacht habe oder nicht, thut überhaupt
nichts zur Sache; und dann würde diese Wissenschaft,
wenn sie nur einmal Wissenschaft geworden wäre, nicht
ohne Fug einen Namen ablegen, den sie aus übertrie-
bener Bescheidenheit bisher geführt hat -- den Namen
einer Kennerei, einer Liebhaberei, eines Dillettan-
tism. Die Nation, welche sie erfinden wird, wäre es
wohl werth ihr aus ihrer Sprache einen Namen zu ge-

ben
B

Frage ſich beantworten laſſen, und es muſs eine Wiſ-
ſenſchaft geben, in der ſie beantwortet wird; und giebt
es eine ſolche Wiſſenſchaft, ſo hat unſer Wiſſen einen
Grund. Es läſst ſich demnach über die Gründlichkeit
oder Grundloſigkeit unſers Wiſſens vor der Unterſu-
chung vorher nichts ſagen; und die Möglichkeit der
geforderten Wiſſenſchaft läſst ſich nur durch ihre
Wirklichkeit darthun.

Die Benennung einer ſolchen Wiſſenſchaft, deren
Möglichkeit bis jetzt bloſs problematiſch iſt, iſt willkür-
lich. Wenn ſich jedoch zeigen ſollte, daſs der Boden,
der nach aller bisherigen Erfahrung für den Anbau der
Wiſſenſchaften brauchbar iſt, durch die ihm zugehöri-
gen bereits beſetzt ſey, und daſs ſich nur noch ein un-
angebautes Stück Land zeige, nemlich das für die Wiſ-
ſenſchaft der Wiſſenſchaften überhaupt; — Wenn ſich
ferner unter einem bekannten Namen (dem der Philo-
ſophie) die Idee einer Wiſſenſchaft vorfände, welche
doch auch Wiſſenſchaft ſeyn oder werden will, und
welche über den Platz, wo ſie ſich anbauen ſoll, mit
ſich nicht einig werden kann: ſo wäre es nicht un-
ſchicklich, ihr den aufgefundenen leeren Platz anzu-
weiſen. Ob man ſich bisher bei dem Worte Philoſo-
phie eben das gedacht habe oder nicht, thut überhaupt
nichts zur Sache; und dann würde dieſe Wiſſenſchaft,
wenn ſie nur einmal Wiſſenſchaft geworden wäre, nicht
ohne Fug einen Namen ablegen, den ſie aus übertrie-
bener Beſcheidenheit bisher geführt hat — den Namen
einer Kennerei, einer Liebhaberei, eines Dillettan-
tiſm. Die Nation, welche ſie erfinden wird, wäre es
wohl werth ihr aus ihrer Sprache einen Namen zu ge-

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B
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[17/0025] Frage ſich beantworten laſſen, und es muſs eine Wiſ- ſenſchaft geben, in der ſie beantwortet wird; und giebt es eine ſolche Wiſſenſchaft, ſo hat unſer Wiſſen einen Grund. Es läſst ſich demnach über die Gründlichkeit oder Grundloſigkeit unſers Wiſſens vor der Unterſu- chung vorher nichts ſagen; und die Möglichkeit der geforderten Wiſſenſchaft läſst ſich nur durch ihre Wirklichkeit darthun. Die Benennung einer ſolchen Wiſſenſchaft, deren Möglichkeit bis jetzt bloſs problematiſch iſt, iſt willkür- lich. Wenn ſich jedoch zeigen ſollte, daſs der Boden, der nach aller bisherigen Erfahrung für den Anbau der Wiſſenſchaften brauchbar iſt, durch die ihm zugehöri- gen bereits beſetzt ſey, und daſs ſich nur noch ein un- angebautes Stück Land zeige, nemlich das für die Wiſ- ſenſchaft der Wiſſenſchaften überhaupt; — Wenn ſich ferner unter einem bekannten Namen (dem der Philo- ſophie) die Idee einer Wiſſenſchaft vorfände, welche doch auch Wiſſenſchaft ſeyn oder werden will, und welche über den Platz, wo ſie ſich anbauen ſoll, mit ſich nicht einig werden kann: ſo wäre es nicht un- ſchicklich, ihr den aufgefundenen leeren Platz anzu- weiſen. Ob man ſich bisher bei dem Worte Philoſo- phie eben das gedacht habe oder nicht, thut überhaupt nichts zur Sache; und dann würde dieſe Wiſſenſchaft, wenn ſie nur einmal Wiſſenſchaft geworden wäre, nicht ohne Fug einen Namen ablegen, den ſie aus übertrie- bener Beſcheidenheit bisher geführt hat — den Namen einer Kennerei, einer Liebhaberei, eines Dillettan- tiſm. Die Nation, welche ſie erfinden wird, wäre es wohl werth ihr aus ihrer Sprache einen Namen zu ge- ben B

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/25>, abgerufen am 27.04.2024.