Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

Christus hat Alles für uns gethan, hat uns erlöst, versöhnt
mit Gott; und es ließe sich daher hieraus der Schluß ziehen:
Lasset uns fröhlichen Sinnes sein, was brauchen wir uns dar-
über zu kümmern, wie wir uns mit Gott versöhnen sollen;
wir sind es ja schon. Aber das Imperfectum des Leidens macht
einen stärkern, anhaltendern Eindruck, als das Perfectum der
Erlösung. Die Erlösung ist nur das Resultat des Leidens;
das Leiden der Grund, die Quelle der Erlösung. Das Lei-
den befestigt sich daher tiefer im Gemüthe; das Leiden macht
sich zu einem Gegenstande der Nachahmung, die Erlösung nicht.
Wenn Gott selber litt um meinetwillen, wie soll ich fröhlich
sein, wie mir eine Freude gönnen, wenigstens auf dieser ver-
dorbnen Erde, die der Schauplatz seiner Leiden war *)? Soll
ich besser sein als Gott? soll ich also sein Leiden mir nicht an-
eignen? Ist was Gott, mein Herr thut, nicht mein Vorbild?
Oder soll ich nur den Gewinn, nicht auch die Kosten tragen?
Weiß ich nur, daß er mich versöhnt, erlöst hat? Ist mir seine
Leidensgeschichte nicht auch Gegenstand? Soll sie mir nur ein
Gegenstand kalter Erinnerung sein oder gar ein Gegenstand
der Freude, weil dieses Leiden mir die Seligkeit erkauft? Aber
wer kann so denken, wer sich ausschließen wollen von den Lei-
den seines Gottes, außer der verworfenste religiöse Egois-
mus
?

Die christliche Religion ist die Religion des Leidens. Die
Bilder des Gekreuzigten, die uns heute noch in allen Kirchen
begegnen, stellen uns keinen Erlöser, sondern nur den Gekreu-
zigten, den Leidenden dar. Selber die Selbstkreuzigungen unter

*) Deus meus pendet in patibulo et ego voluptati ope-
ram dabo
? (Formula hon. vitae.
Unter den unächten Schriften des heil.
Bernhard.)

Chriſtus hat Alles für uns gethan, hat uns erlöſt, verſöhnt
mit Gott; und es ließe ſich daher hieraus der Schluß ziehen:
Laſſet uns fröhlichen Sinnes ſein, was brauchen wir uns dar-
über zu kümmern, wie wir uns mit Gott verſöhnen ſollen;
wir ſind es ja ſchon. Aber das Imperfectum des Leidens macht
einen ſtärkern, anhaltendern Eindruck, als das Perfectum der
Erlöſung. Die Erlöſung iſt nur das Reſultat des Leidens;
das Leiden der Grund, die Quelle der Erlöſung. Das Lei-
den befeſtigt ſich daher tiefer im Gemüthe; das Leiden macht
ſich zu einem Gegenſtande der Nachahmung, die Erlöſung nicht.
Wenn Gott ſelber litt um meinetwillen, wie ſoll ich fröhlich
ſein, wie mir eine Freude gönnen, wenigſtens auf dieſer ver-
dorbnen Erde, die der Schauplatz ſeiner Leiden war *)? Soll
ich beſſer ſein als Gott? ſoll ich alſo ſein Leiden mir nicht an-
eignen? Iſt was Gott, mein Herr thut, nicht mein Vorbild?
Oder ſoll ich nur den Gewinn, nicht auch die Koſten tragen?
Weiß ich nur, daß er mich verſöhnt, erlöſt hat? Iſt mir ſeine
Leidensgeſchichte nicht auch Gegenſtand? Soll ſie mir nur ein
Gegenſtand kalter Erinnerung ſein oder gar ein Gegenſtand
der Freude, weil dieſes Leiden mir die Seligkeit erkauft? Aber
wer kann ſo denken, wer ſich ausſchließen wollen von den Lei-
den ſeines Gottes, außer der verworfenſte religiöſe Egois-
mus
?

Die chriſtliche Religion iſt die Religion des Leidens. Die
Bilder des Gekreuzigten, die uns heute noch in allen Kirchen
begegnen, ſtellen uns keinen Erlöſer, ſondern nur den Gekreu-
zigten, den Leidenden dar. Selber die Selbſtkreuzigungen unter

*) Deus meus pendet in patibulo et ego voluptati ope-
ram dabo
? (Formula hon. vitae.
Unter den unächten Schriften des heil.
Bernhard.)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="66"/>
Chri&#x017F;tus <hi rendition="#g">hat</hi> Alles für uns gethan, <hi rendition="#g">hat</hi> uns erlö&#x017F;t, ver&#x017F;öhnt<lb/>
mit Gott; und es ließe &#x017F;ich daher hieraus der Schluß ziehen:<lb/>
La&#x017F;&#x017F;et uns fröhlichen Sinnes &#x017F;ein, was brauchen wir uns dar-<lb/>
über zu kümmern, wie wir uns mit Gott ver&#x017F;öhnen &#x017F;ollen;<lb/>
wir &#x017F;ind es ja &#x017F;chon. Aber das Imperfectum des Leidens macht<lb/>
einen &#x017F;tärkern, anhaltendern Eindruck, als das Perfectum der<lb/>
Erlö&#x017F;ung. Die Erlö&#x017F;ung i&#x017F;t nur das <hi rendition="#g">Re&#x017F;ultat</hi> des Leidens;<lb/>
das Leiden der <hi rendition="#g">Grund</hi>, die Quelle der Erlö&#x017F;ung. Das Lei-<lb/>
den befe&#x017F;tigt &#x017F;ich daher tiefer im Gemüthe; das Leiden macht<lb/>
&#x017F;ich zu einem Gegen&#x017F;tande der Nachahmung, die Erlö&#x017F;ung nicht.<lb/>
Wenn Gott &#x017F;elber litt um meinetwillen, wie &#x017F;oll ich fröhlich<lb/>
&#x017F;ein, wie mir eine Freude gönnen, wenig&#x017F;tens auf die&#x017F;er ver-<lb/>
dorbnen Erde, die der Schauplatz &#x017F;einer Leiden war <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Deus meus pendet in patibulo et ego voluptati ope-<lb/>
ram dabo</hi>? (Formula hon. vitae.</hi> Unter den unächten Schriften des heil.<lb/>
Bernhard.)</note>? Soll<lb/>
ich be&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ein als Gott? &#x017F;oll ich al&#x017F;o &#x017F;ein Leiden mir nicht an-<lb/>
eignen? I&#x017F;t was Gott, mein Herr thut, nicht mein Vorbild?<lb/>
Oder &#x017F;oll ich nur den Gewinn, nicht auch die Ko&#x017F;ten tragen?<lb/>
Weiß ich nur, daß er mich ver&#x017F;öhnt, erlö&#x017F;t hat? I&#x017F;t mir &#x017F;eine<lb/>
Leidensge&#x017F;chichte nicht auch Gegen&#x017F;tand? Soll &#x017F;ie mir nur ein<lb/>
Gegen&#x017F;tand kalter Erinnerung &#x017F;ein oder gar ein Gegen&#x017F;tand<lb/>
der Freude, weil die&#x017F;es Leiden mir die Seligkeit erkauft? Aber<lb/>
wer kann &#x017F;o denken, wer &#x017F;ich aus&#x017F;chließen wollen von den Lei-<lb/>
den &#x017F;eines Gottes, außer der verworfen&#x017F;te <hi rendition="#g">religiö&#x017F;e Egois-<lb/>
mus</hi>?</p><lb/>
          <p>Die chri&#x017F;tliche Religion i&#x017F;t die Religion des Leidens. Die<lb/>
Bilder des Gekreuzigten, die uns heute noch in allen Kirchen<lb/>
begegnen, &#x017F;tellen uns keinen Erlö&#x017F;er, &#x017F;ondern nur den Gekreu-<lb/>
zigten, den Leidenden dar. Selber die Selb&#x017F;tkreuzigungen unter<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0084] Chriſtus hat Alles für uns gethan, hat uns erlöſt, verſöhnt mit Gott; und es ließe ſich daher hieraus der Schluß ziehen: Laſſet uns fröhlichen Sinnes ſein, was brauchen wir uns dar- über zu kümmern, wie wir uns mit Gott verſöhnen ſollen; wir ſind es ja ſchon. Aber das Imperfectum des Leidens macht einen ſtärkern, anhaltendern Eindruck, als das Perfectum der Erlöſung. Die Erlöſung iſt nur das Reſultat des Leidens; das Leiden der Grund, die Quelle der Erlöſung. Das Lei- den befeſtigt ſich daher tiefer im Gemüthe; das Leiden macht ſich zu einem Gegenſtande der Nachahmung, die Erlöſung nicht. Wenn Gott ſelber litt um meinetwillen, wie ſoll ich fröhlich ſein, wie mir eine Freude gönnen, wenigſtens auf dieſer ver- dorbnen Erde, die der Schauplatz ſeiner Leiden war *)? Soll ich beſſer ſein als Gott? ſoll ich alſo ſein Leiden mir nicht an- eignen? Iſt was Gott, mein Herr thut, nicht mein Vorbild? Oder ſoll ich nur den Gewinn, nicht auch die Koſten tragen? Weiß ich nur, daß er mich verſöhnt, erlöſt hat? Iſt mir ſeine Leidensgeſchichte nicht auch Gegenſtand? Soll ſie mir nur ein Gegenſtand kalter Erinnerung ſein oder gar ein Gegenſtand der Freude, weil dieſes Leiden mir die Seligkeit erkauft? Aber wer kann ſo denken, wer ſich ausſchließen wollen von den Lei- den ſeines Gottes, außer der verworfenſte religiöſe Egois- mus? Die chriſtliche Religion iſt die Religion des Leidens. Die Bilder des Gekreuzigten, die uns heute noch in allen Kirchen begegnen, ſtellen uns keinen Erlöſer, ſondern nur den Gekreu- zigten, den Leidenden dar. Selber die Selbſtkreuzigungen unter *) Deus meus pendet in patibulo et ego voluptati ope- ram dabo? (Formula hon. vitae. Unter den unächten Schriften des heil. Bernhard.)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/84
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/84>, abgerufen am 02.05.2024.