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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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wußtsein der eignen Reizbarkeit und Empfindlichkeit in das
Bewußtsein Gottes aufgenommen; in Gott findet er sie, wenn
sie nur keine sündliche Schwachheit, nicht negirt, nicht ver-
dammt *).

Leiden ist das höchste Gebot des Christenthums -- die
Geschichte des Christenthums selbst die Leidensgeschichte
der Menschheit
. Wenn bei den Heiden das Jauchzen der
sinnlichen Lust sich in den Cultus der Götter mischte, so gehö-
ren bei den Christen, natürlich den alten Christen, die
Seufzer und Thränen des leidenden Herzens, des Gemüths
zum Gottesdienst. Wie aber ein sinnlicher Gott, ein Gott des
Lebens, der Lebensfreude da verehrt wird, wo sinnliches Freu-
dengeschrei zu seinem Cultus gehört, ja wie dieses Freudenge-
schrei nur eine sinnliche Definition ist von dem Wesen der
Götter, denen dieses Geschrei gilt: so sind auch die Herzens-
seufzer der Christen Töne, die aus der innersten Seele, dem
innersten Wesen ihres Gottes kommen. Der Gott des Gottes-
dienstes, bei den Christen des innern Gottesdienstes, nicht der
Gott der sophistischen Theologie ist der wahre Gott des Men-
schen. Aber mit Thränen, den Thränen der Reue und
Sehnsucht
, glaubten die Christen, natürlich die alten Chri-
sten
, ihrem Gott die höchste Ehre anzuthun. Die Thränen
sind also die sinnlichen Glanzpunkte des christlich religiösen
Gemüths, in denen sich das Wesen ihres Gottes abspiegelt.
Aber ein Gott, der an Thränen Gefallen hat, ist nichts andres
als das gegenständliche Wesen des leidenden Herzens --
des Gemüths. Zwar heißt es in der christlichen Religion:

*) Quando enim illi (Deo) appropinquare auderemus in sua
impassibilitate manenti. Bernardus
(Tract. de XII grad. hum.
et sup.)
Feuerbach. 5

wußtſein der eignen Reizbarkeit und Empfindlichkeit in das
Bewußtſein Gottes aufgenommen; in Gott findet er ſie, wenn
ſie nur keine ſündliche Schwachheit, nicht negirt, nicht ver-
dammt *).

Leiden iſt das höchſte Gebot des Chriſtenthums — die
Geſchichte des Chriſtenthums ſelbſt die Leidensgeſchichte
der Menſchheit
. Wenn bei den Heiden das Jauchzen der
ſinnlichen Luſt ſich in den Cultus der Götter miſchte, ſo gehö-
ren bei den Chriſten, natürlich den alten Chriſten, die
Seufzer und Thränen des leidenden Herzens, des Gemüths
zum Gottesdienſt. Wie aber ein ſinnlicher Gott, ein Gott des
Lebens, der Lebensfreude da verehrt wird, wo ſinnliches Freu-
dengeſchrei zu ſeinem Cultus gehört, ja wie dieſes Freudenge-
ſchrei nur eine ſinnliche Definition iſt von dem Weſen der
Götter, denen dieſes Geſchrei gilt: ſo ſind auch die Herzens-
ſeufzer der Chriſten Töne, die aus der innerſten Seele, dem
innerſten Weſen ihres Gottes kommen. Der Gott des Gottes-
dienſtes, bei den Chriſten des innern Gottesdienſtes, nicht der
Gott der ſophiſtiſchen Theologie iſt der wahre Gott des Men-
ſchen. Aber mit Thränen, den Thränen der Reue und
Sehnſucht
, glaubten die Chriſten, natürlich die alten Chri-
ſten
, ihrem Gott die höchſte Ehre anzuthun. Die Thränen
ſind alſo die ſinnlichen Glanzpunkte des chriſtlich religiöſen
Gemüths, in denen ſich das Weſen ihres Gottes abſpiegelt.
Aber ein Gott, der an Thränen Gefallen hat, iſt nichts andres
als das gegenſtändliche Weſen des leidenden Herzens —
des Gemüths. Zwar heißt es in der chriſtlichen Religion:

*) Quando enim illi (Deo) appropinquare auderemus in sua
impassibilitate manenti. Bernardus
(Tract. de XII grad. hum.
et sup.)
Feuerbach. 5
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[65/0083] wußtſein der eignen Reizbarkeit und Empfindlichkeit in das Bewußtſein Gottes aufgenommen; in Gott findet er ſie, wenn ſie nur keine ſündliche Schwachheit, nicht negirt, nicht ver- dammt *). Leiden iſt das höchſte Gebot des Chriſtenthums — die Geſchichte des Chriſtenthums ſelbſt die Leidensgeſchichte der Menſchheit. Wenn bei den Heiden das Jauchzen der ſinnlichen Luſt ſich in den Cultus der Götter miſchte, ſo gehö- ren bei den Chriſten, natürlich den alten Chriſten, die Seufzer und Thränen des leidenden Herzens, des Gemüths zum Gottesdienſt. Wie aber ein ſinnlicher Gott, ein Gott des Lebens, der Lebensfreude da verehrt wird, wo ſinnliches Freu- dengeſchrei zu ſeinem Cultus gehört, ja wie dieſes Freudenge- ſchrei nur eine ſinnliche Definition iſt von dem Weſen der Götter, denen dieſes Geſchrei gilt: ſo ſind auch die Herzens- ſeufzer der Chriſten Töne, die aus der innerſten Seele, dem innerſten Weſen ihres Gottes kommen. Der Gott des Gottes- dienſtes, bei den Chriſten des innern Gottesdienſtes, nicht der Gott der ſophiſtiſchen Theologie iſt der wahre Gott des Men- ſchen. Aber mit Thränen, den Thränen der Reue und Sehnſucht, glaubten die Chriſten, natürlich die alten Chri- ſten, ihrem Gott die höchſte Ehre anzuthun. Die Thränen ſind alſo die ſinnlichen Glanzpunkte des chriſtlich religiöſen Gemüths, in denen ſich das Weſen ihres Gottes abſpiegelt. Aber ein Gott, der an Thränen Gefallen hat, iſt nichts andres als das gegenſtändliche Weſen des leidenden Herzens — des Gemüths. Zwar heißt es in der chriſtlichen Religion: *) Quando enim illi (Deo) appropinquare auderemus in sua impassibilitate manenti. Bernardus (Tract. de XII grad. hum. et sup.) Feuerbach. 5

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/83>, abgerufen am 30.11.2024.