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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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religiöse Gemüth legt überhaupt Alles in Gott -- Das aus-
genommen, was es selbst verschmäht. Die Christen gaben
ihrem Gotte zwar keine ihren moralischen Begriffen widerspre-
chende Affecte, aber die Empfindungen und Gemüthsaffecte
der Liebe, der Barmherzigkeit gaben sie ihm ohne Anstand und
mußten sie ihm geben. Und die Liebe, die das religiöse Ge-
müth in Gott setzt, ist eine eigentliche, nicht nur so vorgespie-
gelte, vorgestellte, eine wirkliche, wahrhafte Liebe -- Gott wird
geliebt und liebt wieder; in der göttlichen Liebe vergegenständ-
licht, bejaht sich nur die menschliche Liebe. In Gott vertieft
sich nur die Liebe in sich als die Wahrheit ihrer selbst.

Gegen die eben entwickelte Bedeutung der Incarnation
kann man erwidern, daß es mit der christlichen Incarnation
doch eine ganz besondre, wenigstens andre Bewandtniß habe
-- was allerdings auch in gewisser Hinsicht wahr ist, wie selbst
später gezeigt werden wird -- als mit den Menschwerdungen
der heidnischen, etwa griechischen oder indischen Götter. Diese
seien bloße Menschenproducte oder vergötterte Menschen; aber
im Christenthum sei die Idee des wahren Gottes gegeben; hier
werde die Vereinigung des göttlichen Wesens mit dem mensch-
lichen erst bedeutungsvoll und "speculativ." Jupiter verwandle
sich auch in einen Stier; die heidnischen Menschwerdungen seien
bloße Phantasien. Im Heidenthum sei nicht mehr in dem
Wesen Gottes als in der Erscheinung Gottes; im Christen-
thum dagegen sei es Gott, sei es ein andres, übermenschliches
Wesen, welches als Mensch erscheine. Aber dieser Einwurf
widerlegt sich durch die bereits gemachte Bemerkung, daß auch
die Prämisse der christlichen Incarnation schon das menschliche
Wesen enthält. Gott liebt den Menschen; Gott hat überdem
einen Sohn in sich; Gott ist Vater; die Verhältnisse der

religiöſe Gemüth legt überhaupt Alles in Gott — Das aus-
genommen, was es ſelbſt verſchmäht. Die Chriſten gaben
ihrem Gotte zwar keine ihren moraliſchen Begriffen widerſpre-
chende Affecte, aber die Empfindungen und Gemüthsaffecte
der Liebe, der Barmherzigkeit gaben ſie ihm ohne Anſtand und
mußten ſie ihm geben. Und die Liebe, die das religiöſe Ge-
müth in Gott ſetzt, iſt eine eigentliche, nicht nur ſo vorgeſpie-
gelte, vorgeſtellte, eine wirkliche, wahrhafte Liebe — Gott wird
geliebt und liebt wieder; in der göttlichen Liebe vergegenſtänd-
licht, bejaht ſich nur die menſchliche Liebe. In Gott vertieft
ſich nur die Liebe in ſich als die Wahrheit ihrer ſelbſt.

Gegen die eben entwickelte Bedeutung der Incarnation
kann man erwidern, daß es mit der chriſtlichen Incarnation
doch eine ganz beſondre, wenigſtens andre Bewandtniß habe
— was allerdings auch in gewiſſer Hinſicht wahr iſt, wie ſelbſt
ſpäter gezeigt werden wird — als mit den Menſchwerdungen
der heidniſchen, etwa griechiſchen oder indiſchen Götter. Dieſe
ſeien bloße Menſchenproducte oder vergötterte Menſchen; aber
im Chriſtenthum ſei die Idee des wahren Gottes gegeben; hier
werde die Vereinigung des göttlichen Weſens mit dem menſch-
lichen erſt bedeutungsvoll und „ſpeculativ.“ Jupiter verwandle
ſich auch in einen Stier; die heidniſchen Menſchwerdungen ſeien
bloße Phantaſien. Im Heidenthum ſei nicht mehr in dem
Weſen Gottes als in der Erſcheinung Gottes; im Chriſten-
thum dagegen ſei es Gott, ſei es ein andres, übermenſchliches
Weſen, welches als Menſch erſcheine. Aber dieſer Einwurf
widerlegt ſich durch die bereits gemachte Bemerkung, daß auch
die Prämiſſe der chriſtlichen Incarnation ſchon das menſchliche
Weſen enthält. Gott liebt den Menſchen; Gott hat überdem
einen Sohn in ſich; Gott iſt Vater; die Verhältniſſe der

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[57/0075] religiöſe Gemüth legt überhaupt Alles in Gott — Das aus- genommen, was es ſelbſt verſchmäht. Die Chriſten gaben ihrem Gotte zwar keine ihren moraliſchen Begriffen widerſpre- chende Affecte, aber die Empfindungen und Gemüthsaffecte der Liebe, der Barmherzigkeit gaben ſie ihm ohne Anſtand und mußten ſie ihm geben. Und die Liebe, die das religiöſe Ge- müth in Gott ſetzt, iſt eine eigentliche, nicht nur ſo vorgeſpie- gelte, vorgeſtellte, eine wirkliche, wahrhafte Liebe — Gott wird geliebt und liebt wieder; in der göttlichen Liebe vergegenſtänd- licht, bejaht ſich nur die menſchliche Liebe. In Gott vertieft ſich nur die Liebe in ſich als die Wahrheit ihrer ſelbſt. Gegen die eben entwickelte Bedeutung der Incarnation kann man erwidern, daß es mit der chriſtlichen Incarnation doch eine ganz beſondre, wenigſtens andre Bewandtniß habe — was allerdings auch in gewiſſer Hinſicht wahr iſt, wie ſelbſt ſpäter gezeigt werden wird — als mit den Menſchwerdungen der heidniſchen, etwa griechiſchen oder indiſchen Götter. Dieſe ſeien bloße Menſchenproducte oder vergötterte Menſchen; aber im Chriſtenthum ſei die Idee des wahren Gottes gegeben; hier werde die Vereinigung des göttlichen Weſens mit dem menſch- lichen erſt bedeutungsvoll und „ſpeculativ.“ Jupiter verwandle ſich auch in einen Stier; die heidniſchen Menſchwerdungen ſeien bloße Phantaſien. Im Heidenthum ſei nicht mehr in dem Weſen Gottes als in der Erſcheinung Gottes; im Chriſten- thum dagegen ſei es Gott, ſei es ein andres, übermenſchliches Weſen, welches als Menſch erſcheine. Aber dieſer Einwurf widerlegt ſich durch die bereits gemachte Bemerkung, daß auch die Prämiſſe der chriſtlichen Incarnation ſchon das menſchliche Weſen enthält. Gott liebt den Menſchen; Gott hat überdem einen Sohn in ſich; Gott iſt Vater; die Verhältniſſe der

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/75>, abgerufen am 29.11.2024.