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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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loses, vollkommen heiliges Wesen -- es ist sein eignes We-
sen, denn es ist das Gesetz des Menschen, es stellt die Forde-
rung an ihn zu sein, wie es selbst ist: "Heilig ist Gott, ihr
sollt heilig sein wie Gott;" sein eignes Gewissen, denn
wie könnte es sonst vor diesem Wesen erzittern, wie vor ihm
sich anklagen, wie es zum Richter seiner innersten Gedanken
und Gesinnungen machen? Aber es wird angeschaut als ein
andres objectives Wesen. Indem nun der religiöse Mensch
sein Wesen sich entgegensetzt als absolut heiliges Wesen, em-
pfindet er sich, wie er ist, wie er sich seiner bewußt ist, im Wi-
derspruch mit diesem Wesen, nicht entsprechend dieser Forderung,
diesem Gesetze, ihm zu gleichen, als unvollkommen, als sünd-
haft. Der Mensch ist entzweit mit seinem eignen Wesen; er
ist nicht, wie er sein soll und folglich sein kann, und in die-
sem Zwiespalt fühlt er sich unglücklich, nichtig, verdammt, um
so mehr, als ihm in der Religion das moralische Gesetz nicht
nur als Gesetz und als sein eignes, wahres Wesen, sondern
als ein andres persönliches Wesen Gegenstand ist, welches die
Sünder haßt, von seiner Gnade, der Quelle alles Heils und
Glücks ausschließt.

Das Bewußtsein der moralischen Vollkommenheit ist herz-
los
, denn es ist das Bewußtsein meiner persönlichen Nich-
tigkeit
und zwar der allerempfindlichsten, der moralischen
Nichtigkeit. Das Bewußtsein der göttlichen Allmacht und
Ewigkeit im Gegensatze zum Bewußtsein meiner Beschränkt-
heit in Zeit und Kraft thut mir nicht wehe; denn die Allmacht,
die Ewigkeit ist für mich nicht das Gesetz, selbst ewig, selbst
allmächtig zu sein. Aber der moralischen Vollkommenheit kann
ich mir nicht bewußt werden, ohne derselben zugleich als eines
Gesetzes für mich bewußt zu werden, denn das Bewußtsein

loſes, vollkommen heiliges Weſen — es iſt ſein eignes We-
ſen, denn es iſt das Geſetz des Menſchen, es ſtellt die Forde-
rung an ihn zu ſein, wie es ſelbſt iſt: „Heilig iſt Gott, ihr
ſollt heilig ſein wie Gott;“ ſein eignes Gewiſſen, denn
wie könnte es ſonſt vor dieſem Weſen erzittern, wie vor ihm
ſich anklagen, wie es zum Richter ſeiner innerſten Gedanken
und Geſinnungen machen? Aber es wird angeſchaut als ein
andres objectives Weſen. Indem nun der religiöſe Menſch
ſein Weſen ſich entgegenſetzt als abſolut heiliges Weſen, em-
pfindet er ſich, wie er iſt, wie er ſich ſeiner bewußt iſt, im Wi-
derſpruch mit dieſem Weſen, nicht entſprechend dieſer Forderung,
dieſem Geſetze, ihm zu gleichen, als unvollkommen, als ſünd-
haft. Der Menſch iſt entzweit mit ſeinem eignen Weſen; er
iſt nicht, wie er ſein ſoll und folglich ſein kann, und in die-
ſem Zwieſpalt fühlt er ſich unglücklich, nichtig, verdammt, um
ſo mehr, als ihm in der Religion das moraliſche Geſetz nicht
nur als Geſetz und als ſein eignes, wahres Weſen, ſondern
als ein andres perſönliches Weſen Gegenſtand iſt, welches die
Sünder haßt, von ſeiner Gnade, der Quelle alles Heils und
Glücks ausſchließt.

Das Bewußtſein der moraliſchen Vollkommenheit iſt herz-
los
, denn es iſt das Bewußtſein meiner perſönlichen Nich-
tigkeit
und zwar der allerempfindlichſten, der moraliſchen
Nichtigkeit. Das Bewußtſein der göttlichen Allmacht und
Ewigkeit im Gegenſatze zum Bewußtſein meiner Beſchränkt-
heit in Zeit und Kraft thut mir nicht wehe; denn die Allmacht,
die Ewigkeit iſt für mich nicht das Geſetz, ſelbſt ewig, ſelbſt
allmächtig zu ſein. Aber der moraliſchen Vollkommenheit kann
ich mir nicht bewußt werden, ohne derſelben zugleich als eines
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[45/0063] loſes, vollkommen heiliges Weſen — es iſt ſein eignes We- ſen, denn es iſt das Geſetz des Menſchen, es ſtellt die Forde- rung an ihn zu ſein, wie es ſelbſt iſt: „Heilig iſt Gott, ihr ſollt heilig ſein wie Gott;“ ſein eignes Gewiſſen, denn wie könnte es ſonſt vor dieſem Weſen erzittern, wie vor ihm ſich anklagen, wie es zum Richter ſeiner innerſten Gedanken und Geſinnungen machen? Aber es wird angeſchaut als ein andres objectives Weſen. Indem nun der religiöſe Menſch ſein Weſen ſich entgegenſetzt als abſolut heiliges Weſen, em- pfindet er ſich, wie er iſt, wie er ſich ſeiner bewußt iſt, im Wi- derſpruch mit dieſem Weſen, nicht entſprechend dieſer Forderung, dieſem Geſetze, ihm zu gleichen, als unvollkommen, als ſünd- haft. Der Menſch iſt entzweit mit ſeinem eignen Weſen; er iſt nicht, wie er ſein ſoll und folglich ſein kann, und in die- ſem Zwieſpalt fühlt er ſich unglücklich, nichtig, verdammt, um ſo mehr, als ihm in der Religion das moraliſche Geſetz nicht nur als Geſetz und als ſein eignes, wahres Weſen, ſondern als ein andres perſönliches Weſen Gegenſtand iſt, welches die Sünder haßt, von ſeiner Gnade, der Quelle alles Heils und Glücks ausſchließt. Das Bewußtſein der moraliſchen Vollkommenheit iſt herz- los, denn es iſt das Bewußtſein meiner perſönlichen Nich- tigkeit und zwar der allerempfindlichſten, der moraliſchen Nichtigkeit. Das Bewußtſein der göttlichen Allmacht und Ewigkeit im Gegenſatze zum Bewußtſein meiner Beſchränkt- heit in Zeit und Kraft thut mir nicht wehe; denn die Allmacht, die Ewigkeit iſt für mich nicht das Geſetz, ſelbſt ewig, ſelbſt allmächtig zu ſein. Aber der moraliſchen Vollkommenheit kann ich mir nicht bewußt werden, ohne derſelben zugleich als eines Geſetzes für mich bewußt zu werden, denn das Bewußtſein

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/63>, abgerufen am 02.05.2024.