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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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ist die der moralischen Vollkommenheit. Gott ist der
Religion als moralisch vollkommnes Wesen Gegenstand. Gott
wohnt nur in einem reinen Herzen; nur dem reinen Sinne ist
er zugänglich. Warum, wenn er nicht selbst das reine mora-
lische Wesen ist? *) Die Sünde ist ein Widerspruch mit dem
göttlichen Wesen -- in der Sprache der Religion, die Alles
personificirt: Gott haßt die Sünde, sie ist ihm zuwider. War-
um ist sie aber ein Widerspruch mit dem göttlichen Wesen?
weil sie die Natur des Menschen ist? weil sie in seinem Wesen
liegt? Mit Nichten. Wenn der Mensch in der Sünde seiner
Natur gemäß handelte, so handelte er, wie er handeln soll, so
wäre seine Sünde ein comme il faut, ein Wohlklang, kein
Mißton in der Welt. Also widerspricht nur die Sünde dem
göttlichen Wesen, weil sie dem menschlichen Wesen, dem,
was der Mensch sein soll, sein kann, widerspricht. Die Sünde
beleidigt Gott, weil sie des Menschen Wesen beleidigt. Wäre
das göttliche Wesen ein andres, vom menschlichen unterschie-
denes, so könnte die Sünde, wie schon entwickelt, keinen Wi-
derspruch gegen das göttliche Wesen ausdrücken; sie wäre
demselben absolut indifferent. Der Widerspruch der Sünde
mit Gott ist daher nur der Widerspruch des individuellen Men-
schen mit seinem Wesen. Das religiöse Bewußtsein setzt sein
eignes Wesen sich als Object entgegen, als mangel- und sünd-

*) Nihil est autem quod hominem adeo Deo dissimilem faciat,
quemadmodum peccatum. Augustin.
(bei Petrus Lombardus Sent.
I. II. dist. 35. c. 7.) Qui innocentiam colit, Domino supplicat, qui justi-
tiam, Deo libat; qui fraudibus abstinet, propitiat Deum, qui hominem pe-
riculo subripit, opimam victimam caedit. Haec nostra sacrificia, haec
Dei sacra sunt: sic apud nos religiosior est ille qui justior. M.
Minu. Felicis Octav
. c.
32. Uebrigens finden sich ähnliche Gedanken
genug auch bei den sogenannten Heiden.

iſt die der moraliſchen Vollkommenheit. Gott iſt der
Religion als moraliſch vollkommnes Weſen Gegenſtand. Gott
wohnt nur in einem reinen Herzen; nur dem reinen Sinne iſt
er zugänglich. Warum, wenn er nicht ſelbſt das reine mora-
liſche Weſen iſt? *) Die Sünde iſt ein Widerſpruch mit dem
göttlichen Weſen — in der Sprache der Religion, die Alles
perſonificirt: Gott haßt die Sünde, ſie iſt ihm zuwider. War-
um iſt ſie aber ein Widerſpruch mit dem göttlichen Weſen?
weil ſie die Natur des Menſchen iſt? weil ſie in ſeinem Weſen
liegt? Mit Nichten. Wenn der Menſch in der Sünde ſeiner
Natur gemäß handelte, ſo handelte er, wie er handeln ſoll, ſo
wäre ſeine Sünde ein comme il faut, ein Wohlklang, kein
Mißton in der Welt. Alſo widerſpricht nur die Sünde dem
göttlichen Weſen, weil ſie dem menſchlichen Weſen, dem,
was der Menſch ſein ſoll, ſein kann, widerſpricht. Die Sünde
beleidigt Gott, weil ſie des Menſchen Weſen beleidigt. Wäre
das göttliche Weſen ein andres, vom menſchlichen unterſchie-
denes, ſo könnte die Sünde, wie ſchon entwickelt, keinen Wi-
derſpruch gegen das göttliche Weſen ausdrücken; ſie wäre
demſelben abſolut indifferent. Der Widerſpruch der Sünde
mit Gott iſt daher nur der Widerſpruch des individuellen Men-
ſchen mit ſeinem Weſen. Das religiöſe Bewußtſein ſetzt ſein
eignes Weſen ſich als Object entgegen, als mangel- und ſünd-

*) Nihil est autem quod hominem adeo Deo dissimilem faciat,
quemadmodum peccatum. Augustin.
(bei Petrus Lombardus Sent.
I. II. dist. 35. c. 7.) Qui innocentiam colit, Domino supplicat, qui justi-
tiam, Deo libat; qui fraudibus abstinet, propitiat Deum, qui hominem pe-
riculo subripit, opimam victimam caedit. Haec nostra sacrificia, haec
Dei sacra sunt: sic apud nos religiosior est ille qui justior. M.
Minu. Felicis Octav
. c.
32. Uebrigens finden ſich ähnliche Gedanken
genug auch bei den ſogenannten Heiden.
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[44/0062] iſt die der moraliſchen Vollkommenheit. Gott iſt der Religion als moraliſch vollkommnes Weſen Gegenſtand. Gott wohnt nur in einem reinen Herzen; nur dem reinen Sinne iſt er zugänglich. Warum, wenn er nicht ſelbſt das reine mora- liſche Weſen iſt? *) Die Sünde iſt ein Widerſpruch mit dem göttlichen Weſen — in der Sprache der Religion, die Alles perſonificirt: Gott haßt die Sünde, ſie iſt ihm zuwider. War- um iſt ſie aber ein Widerſpruch mit dem göttlichen Weſen? weil ſie die Natur des Menſchen iſt? weil ſie in ſeinem Weſen liegt? Mit Nichten. Wenn der Menſch in der Sünde ſeiner Natur gemäß handelte, ſo handelte er, wie er handeln ſoll, ſo wäre ſeine Sünde ein comme il faut, ein Wohlklang, kein Mißton in der Welt. Alſo widerſpricht nur die Sünde dem göttlichen Weſen, weil ſie dem menſchlichen Weſen, dem, was der Menſch ſein ſoll, ſein kann, widerſpricht. Die Sünde beleidigt Gott, weil ſie des Menſchen Weſen beleidigt. Wäre das göttliche Weſen ein andres, vom menſchlichen unterſchie- denes, ſo könnte die Sünde, wie ſchon entwickelt, keinen Wi- derſpruch gegen das göttliche Weſen ausdrücken; ſie wäre demſelben abſolut indifferent. Der Widerſpruch der Sünde mit Gott iſt daher nur der Widerſpruch des individuellen Men- ſchen mit ſeinem Weſen. Das religiöſe Bewußtſein ſetzt ſein eignes Weſen ſich als Object entgegen, als mangel- und ſünd- *) Nihil est autem quod hominem adeo Deo dissimilem faciat, quemadmodum peccatum. Augustin. (bei Petrus Lombardus Sent. I. II. dist. 35. c. 7.) Qui innocentiam colit, Domino supplicat, qui justi- tiam, Deo libat; qui fraudibus abstinet, propitiat Deum, qui hominem pe- riculo subripit, opimam victimam caedit. Haec nostra sacrificia, haec Dei sacra sunt: sic apud nos religiosior est ille qui justior. M. Minu. Felicis Octav. c. 32. Uebrigens finden ſich ähnliche Gedanken genug auch bei den ſogenannten Heiden.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/62>, abgerufen am 28.11.2024.