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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Christen ihr Gemüth in und als Gott selbst setzten. Der
Christ findet Gott nicht in der Vernunft; sie ist ihm vielmehr
ein atheistisches Wesen, negativ, unbestimmt, indirect ausge-
drückt: sie kann Gott nicht fassen, nicht begreifen; denn der
Gott, den die Vernunft setzt, ist immer ein Vernunftwesen, das
eigne Wesen der Vernunft. Der Christ findet Gott nur im
Gemüthe, eben weil das Gemüth sein wahrer Gott ist. Das
Christenthum machte das Herz zu Gott, zum absoluten,
allmächtigen Wesen
-- dieß ist das Mysterium, welches
den Heiden und Philsophen verschlossen war, dieß das ganze
Mysterium des Christenthums, woraus sich auf eine eben so
ungezwungene, als speculative, eben so mit der Philosophie,
als mit der Empirie übereinstimmende Weise alle Erscheinun-
gen der christlichen Geschichte von Anbeginn an bis auf
den heutigen Tag erklären lassen. Hieraus erhellt auch, daß
das Bestreben unserer positiven Speculanten oder richtiger
Phantasten, die Rechts-, Staats- und Naturverhältnisse, kurz
Alles, was dem Gemüthe, dem christlichen Gott wider-
spricht
und daher im Himmel, d. i. in der Wahrheit des
Christenthums aufgehoben wird, aus diesem Gotte abzuleiten,
eben so auf einer Ignoranz der Natur, des Staats, des
Rechts, als des Christenthums selbst beruht, daß also dieses
Bestreben eben so unvernünftig, unphilosophisch als unchrist-
lich
ist. Aber gerade dadurch, daß das Christenthum die na-
turgemäße Bestimmung und Begränzung des Herzens negirte,
setzte es sich wieder in Widerspruch mit dem wahren, univer-
sellen Herzen -- das übernatürliche Herz wurde ein unnatür-
liches. Wenn daher in dieser Schrift Gemüth und Herz bald
als gleichbedeutend gebraucht, bald in dem angegebenen Sinne
unterschieden werden, so trägt die Schuld dieses Widerspruchs
keineswegs nur die Willkühr des Verfassers und des Sprach-
gebrauchs, der Gemüth bald für den ganzen Menschen, bald
für Herz setzt, sondern auch der Gegenstand selbst. Das
Christenthum ist der Widerspruch von Herz und Gemüth,
weil der Widerspruch von Glaube und Liebe. Der Glaube

Chriſten ihr Gemüth in und als Gott ſelbſt ſetzten. Der
Chriſt findet Gott nicht in der Vernunft; ſie iſt ihm vielmehr
ein atheiſtiſches Weſen, negativ, unbeſtimmt, indirect ausge-
drückt: ſie kann Gott nicht faſſen, nicht begreifen; denn der
Gott, den die Vernunft ſetzt, iſt immer ein Vernunftweſen, das
eigne Weſen der Vernunft. Der Chriſt findet Gott nur im
Gemüthe, eben weil das Gemüth ſein wahrer Gott iſt. Das
Chriſtenthum machte das Herz zu Gott, zum abſoluten,
allmächtigen Weſen
— dieß iſt das Myſterium, welches
den Heiden und Philſophen verſchloſſen war, dieß das ganze
Myſterium des Chriſtenthums, woraus ſich auf eine eben ſo
ungezwungene, als ſpeculative, eben ſo mit der Philoſophie,
als mit der Empirie übereinſtimmende Weiſe alle Erſcheinun-
gen der chriſtlichen Geſchichte von Anbeginn an bis auf
den heutigen Tag erklären laſſen. Hieraus erhellt auch, daß
das Beſtreben unſerer poſitiven Speculanten oder richtiger
Phantaſten, die Rechts-, Staats- und Naturverhältniſſe, kurz
Alles, was dem Gemüthe, dem chriſtlichen Gott wider-
ſpricht
und daher im Himmel, d. i. in der Wahrheit des
Chriſtenthums aufgehoben wird, aus dieſem Gotte abzuleiten,
eben ſo auf einer Ignoranz der Natur, des Staats, des
Rechts, als des Chriſtenthums ſelbſt beruht, daß alſo dieſes
Beſtreben eben ſo unvernünftig, unphiloſophiſch als unchriſt-
lich
iſt. Aber gerade dadurch, daß das Chriſtenthum die na-
turgemäße Beſtimmung und Begränzung des Herzens negirte,
ſetzte es ſich wieder in Widerſpruch mit dem wahren, univer-
ſellen Herzen — das übernatürliche Herz wurde ein unnatür-
liches. Wenn daher in dieſer Schrift Gemüth und Herz bald
als gleichbedeutend gebraucht, bald in dem angegebenen Sinne
unterſchieden werden, ſo trägt die Schuld dieſes Widerſpruchs
keineswegs nur die Willkühr des Verfaſſers und des Sprach-
gebrauchs, der Gemüth bald für den ganzen Menſchen, bald
für Herz ſetzt, ſondern auch der Gegenſtand ſelbſt. Das
Chriſtenthum iſt der Widerſpruch von Herz und Gemüth,
weil der Widerſpruch von Glaube und Liebe. Der Glaube

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[389/0407] Chriſten ihr Gemüth in und als Gott ſelbſt ſetzten. Der Chriſt findet Gott nicht in der Vernunft; ſie iſt ihm vielmehr ein atheiſtiſches Weſen, negativ, unbeſtimmt, indirect ausge- drückt: ſie kann Gott nicht faſſen, nicht begreifen; denn der Gott, den die Vernunft ſetzt, iſt immer ein Vernunftweſen, das eigne Weſen der Vernunft. Der Chriſt findet Gott nur im Gemüthe, eben weil das Gemüth ſein wahrer Gott iſt. Das Chriſtenthum machte das Herz zu Gott, zum abſoluten, allmächtigen Weſen — dieß iſt das Myſterium, welches den Heiden und Philſophen verſchloſſen war, dieß das ganze Myſterium des Chriſtenthums, woraus ſich auf eine eben ſo ungezwungene, als ſpeculative, eben ſo mit der Philoſophie, als mit der Empirie übereinſtimmende Weiſe alle Erſcheinun- gen der chriſtlichen Geſchichte von Anbeginn an bis auf den heutigen Tag erklären laſſen. Hieraus erhellt auch, daß das Beſtreben unſerer poſitiven Speculanten oder richtiger Phantaſten, die Rechts-, Staats- und Naturverhältniſſe, kurz Alles, was dem Gemüthe, dem chriſtlichen Gott wider- ſpricht und daher im Himmel, d. i. in der Wahrheit des Chriſtenthums aufgehoben wird, aus dieſem Gotte abzuleiten, eben ſo auf einer Ignoranz der Natur, des Staats, des Rechts, als des Chriſtenthums ſelbſt beruht, daß alſo dieſes Beſtreben eben ſo unvernünftig, unphiloſophiſch als unchriſt- lich iſt. Aber gerade dadurch, daß das Chriſtenthum die na- turgemäße Beſtimmung und Begränzung des Herzens negirte, ſetzte es ſich wieder in Widerſpruch mit dem wahren, univer- ſellen Herzen — das übernatürliche Herz wurde ein unnatür- liches. Wenn daher in dieſer Schrift Gemüth und Herz bald als gleichbedeutend gebraucht, bald in dem angegebenen Sinne unterſchieden werden, ſo trägt die Schuld dieſes Widerſpruchs keineswegs nur die Willkühr des Verfaſſers und des Sprach- gebrauchs, der Gemüth bald für den ganzen Menſchen, bald für Herz ſetzt, ſondern auch der Gegenſtand ſelbſt. Das Chriſtenthum iſt der Widerſpruch von Herz und Gemüth, weil der Widerſpruch von Glaube und Liebe. Der Glaube

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/407>, abgerufen am 10.05.2024.