Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht das geistlose Punctum, welches die Reflexion so oft setzt,
als ihr der Verstand ausgeht, sondern ein pathetisches Aus-
rufungszeichen von dem Eindruck, welchen die Phantasie auf
das Gemüth macht. Die Phantasie ist das ursprüngliche
Organ und Wesen der Religion. Im ursprünglichen Sinne
der Religion ist zwischen Gott und Mensch einerseits nur ein
Unterschied der Existenz nach, inwiefern Gott als selbststän-
diges Wesen dem Menschen gegenübersteht, andererseits nur
ein quantitativer, d. h. ein Unterschied der Phantasie
nach
, denn die Unterschiede der Phantasie sind nur quantita-
tive. Die Unendlichkeit Gottes in der Religion ist quanti-
tative
Unendlichkeit. Gott ist und hat Alles, was der
Mensch, aber in unendlich vergrößertem Maaßstabe -- daher
der entzückende Eindruck, den die religiösen Vorstellungen auf
das Gemüth machen. Gottes Wesen ist das explicirte,
objective
oder vergegenständlichte Wesen der Phanta-
sie
*). Gott ist ein sinnliches Wesen, aber befreit von den
Schranken der Sinnlichkeit -- das unbeschränkte sinn-
liche Wesen
. Aber was ist die Phantasie? -- die schran-
kenlose, die unbeschränkte Sinnlichkeit. Gott ist die ewige
Existenz, d. h. die immerwährende, die Existenz zu allen
Zeiten
: Gott ist die allgegenwärtige Existenz, d. h. die Exi-
sten an allen Orten: Gott ist das allwissende Wesen, d.
h. das Wesen, dem alles Einzelne, alles Sinnliche,
ohne Unterschied, ohne Zeit und Ortsbeschränkung Gegen-
stand ist.

*) Dieß zeigt sich besonders auch in dem Superlativ und in der Prä-
position: Ueber, uper, die den göttlichen Prädicaten vorgesetzt werden und
von jeher -- wie z. B. bei den Neuplatonikern, den Christen unter den heid-
nischen Philosophen -- eine Hauptrolle in der Theologie spielten.

nicht das geiſtloſe Punctum, welches die Reflexion ſo oft ſetzt,
als ihr der Verſtand ausgeht, ſondern ein pathetiſches Aus-
rufungszeichen von dem Eindruck, welchen die Phantaſie auf
das Gemüth macht. Die Phantaſie iſt das urſprüngliche
Organ und Weſen der Religion. Im urſprünglichen Sinne
der Religion iſt zwiſchen Gott und Menſch einerſeits nur ein
Unterſchied der Exiſtenz nach, inwiefern Gott als ſelbſtſtän-
diges Weſen dem Menſchen gegenüberſteht, andererſeits nur
ein quantitativer, d. h. ein Unterſchied der Phantaſie
nach
, denn die Unterſchiede der Phantaſie ſind nur quantita-
tive. Die Unendlichkeit Gottes in der Religion iſt quanti-
tative
Unendlichkeit. Gott iſt und hat Alles, was der
Menſch, aber in unendlich vergrößertem Maaßſtabe — daher
der entzückende Eindruck, den die religiöſen Vorſtellungen auf
das Gemüth machen. Gottes Weſen iſt das explicirte,
objective
oder vergegenſtändlichte Weſen der Phanta-
ſie
*). Gott iſt ein ſinnliches Weſen, aber befreit von den
Schranken der Sinnlichkeit — das unbeſchränkte ſinn-
liche Weſen
. Aber was iſt die Phantaſie? — die ſchran-
kenloſe, die unbeſchränkte Sinnlichkeit. Gott iſt die ewige
Exiſtenz, d. h. die immerwährende, die Exiſtenz zu allen
Zeiten
: Gott iſt die allgegenwärtige Exiſtenz, d. h. die Exi-
ſten an allen Orten: Gott iſt das allwiſſende Weſen, d.
h. das Weſen, dem alles Einzelne, alles Sinnliche,
ohne Unterſchied, ohne Zeit und Ortsbeſchränkung Gegen-
ſtand iſt.

*) Dieß zeigt ſich beſonders auch in dem Superlativ und in der Prä-
poſition: Ueber, ὑπεϱ, die den göttlichen Prädicaten vorgeſetzt werden und
von jeher — wie z. B. bei den Neuplatonikern, den Chriſten unter den heid-
niſchen Philoſophen — eine Hauptrolle in der Theologie ſpielten.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0310" n="292"/>
nicht das gei&#x017F;tlo&#x017F;e Punctum, welches die Reflexion &#x017F;o oft &#x017F;etzt,<lb/>
als ihr der Ver&#x017F;tand ausgeht, &#x017F;ondern ein patheti&#x017F;ches Aus-<lb/>
rufungszeichen von dem Eindruck, welchen die Phanta&#x017F;ie auf<lb/>
das Gemüth macht. Die Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t das ur&#x017F;prüngliche<lb/>
Organ und We&#x017F;en der Religion. Im ur&#x017F;prünglichen Sinne<lb/>
der Religion i&#x017F;t zwi&#x017F;chen Gott und Men&#x017F;ch einer&#x017F;eits nur ein<lb/>
Unter&#x017F;chied der <hi rendition="#g">Exi&#x017F;tenz</hi> nach, inwiefern Gott als &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tän-<lb/>
diges We&#x017F;en dem Men&#x017F;chen gegenüber&#x017F;teht, anderer&#x017F;eits nur<lb/>
ein <hi rendition="#g">quantitativer</hi>, d. h. ein Unter&#x017F;chied der <hi rendition="#g">Phanta&#x017F;ie<lb/>
nach</hi>, denn die Unter&#x017F;chiede der Phanta&#x017F;ie &#x017F;ind nur quantita-<lb/>
tive. Die Unendlichkeit Gottes in der Religion i&#x017F;t <hi rendition="#g">quanti-<lb/>
tative</hi> Unendlichkeit. Gott i&#x017F;t und hat Alles, was der<lb/>
Men&#x017F;ch, aber in unendlich vergrößertem Maaß&#x017F;tabe &#x2014; daher<lb/>
der entzückende Eindruck, den die religiö&#x017F;en Vor&#x017F;tellungen auf<lb/>
das Gemüth machen. <hi rendition="#g">Gottes We&#x017F;en</hi> i&#x017F;t das <hi rendition="#g">explicirte,<lb/>
objective</hi> oder vergegen&#x017F;tändlichte <hi rendition="#g">We&#x017F;en der Phanta-<lb/>
&#x017F;ie</hi><note place="foot" n="*)">Dieß zeigt &#x017F;ich be&#x017F;onders auch in dem Superlativ und in der Prä-<lb/>
po&#x017F;ition: Ueber, &#x1F51;&#x03C0;&#x03B5;&#x03F1;, die den göttlichen Prädicaten vorge&#x017F;etzt werden und<lb/>
von jeher &#x2014; wie z. B. bei den Neuplatonikern, den Chri&#x017F;ten unter den heid-<lb/>
ni&#x017F;chen Philo&#x017F;ophen &#x2014; eine Hauptrolle in der Theologie &#x017F;pielten.</note>. Gott i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">&#x017F;innliches We&#x017F;en</hi>, aber befreit von den<lb/><hi rendition="#g">Schranken der Sinnlichkeit</hi> &#x2014; das <hi rendition="#g">unbe&#x017F;chränkte &#x017F;inn-<lb/>
liche We&#x017F;en</hi>. Aber was i&#x017F;t die Phanta&#x017F;ie? &#x2014; die &#x017F;chran-<lb/>
kenlo&#x017F;e, die <hi rendition="#g">unbe&#x017F;chränkte Sinnlichkeit</hi>. Gott i&#x017F;t die ewige<lb/>
Exi&#x017F;tenz, d. h. die immerwährende, die Exi&#x017F;tenz <hi rendition="#g">zu allen<lb/>
Zeiten</hi>: Gott i&#x017F;t die allgegenwärtige Exi&#x017F;tenz, d. h. die Exi-<lb/>
&#x017F;ten <hi rendition="#g">an allen Orten</hi>: Gott i&#x017F;t das <hi rendition="#g">allwi&#x017F;&#x017F;ende</hi> We&#x017F;en, d.<lb/>
h. das We&#x017F;en, dem <hi rendition="#g">alles Einzelne, alles Sinnliche</hi>,<lb/>
ohne Unter&#x017F;chied, ohne Zeit und Ortsbe&#x017F;chränkung Gegen-<lb/>
&#x017F;tand i&#x017F;t.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0310] nicht das geiſtloſe Punctum, welches die Reflexion ſo oft ſetzt, als ihr der Verſtand ausgeht, ſondern ein pathetiſches Aus- rufungszeichen von dem Eindruck, welchen die Phantaſie auf das Gemüth macht. Die Phantaſie iſt das urſprüngliche Organ und Weſen der Religion. Im urſprünglichen Sinne der Religion iſt zwiſchen Gott und Menſch einerſeits nur ein Unterſchied der Exiſtenz nach, inwiefern Gott als ſelbſtſtän- diges Weſen dem Menſchen gegenüberſteht, andererſeits nur ein quantitativer, d. h. ein Unterſchied der Phantaſie nach, denn die Unterſchiede der Phantaſie ſind nur quantita- tive. Die Unendlichkeit Gottes in der Religion iſt quanti- tative Unendlichkeit. Gott iſt und hat Alles, was der Menſch, aber in unendlich vergrößertem Maaßſtabe — daher der entzückende Eindruck, den die religiöſen Vorſtellungen auf das Gemüth machen. Gottes Weſen iſt das explicirte, objective oder vergegenſtändlichte Weſen der Phanta- ſie *). Gott iſt ein ſinnliches Weſen, aber befreit von den Schranken der Sinnlichkeit — das unbeſchränkte ſinn- liche Weſen. Aber was iſt die Phantaſie? — die ſchran- kenloſe, die unbeſchränkte Sinnlichkeit. Gott iſt die ewige Exiſtenz, d. h. die immerwährende, die Exiſtenz zu allen Zeiten: Gott iſt die allgegenwärtige Exiſtenz, d. h. die Exi- ſten an allen Orten: Gott iſt das allwiſſende Weſen, d. h. das Weſen, dem alles Einzelne, alles Sinnliche, ohne Unterſchied, ohne Zeit und Ortsbeſchränkung Gegen- ſtand iſt. *) Dieß zeigt ſich beſonders auch in dem Superlativ und in der Prä- poſition: Ueber, ὑπεϱ, die den göttlichen Prädicaten vorgeſetzt werden und von jeher — wie z. B. bei den Neuplatonikern, den Chriſten unter den heid- niſchen Philoſophen — eine Hauptrolle in der Theologie ſpielten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/310
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/310>, abgerufen am 24.11.2024.