wußtsein hat, wie etwa die Substanz des Spinoza, ist kein Gott. Die wesentliche Identität mit uns ist die Haupt- bedingung der Gottheit; der Begriff der Gottheit wird ab- hängig gemacht von dem Begriffe der Persönlichkeit, des Bewußtseins, quo nihil majus cogitari potest. Aber ein Gott, so heißt es zugleich wieder, der nicht wesentlich von uns unterschieden, ist kein Gott.
Der Charakter der Religion ist die unmittelbare, unwill- kührliche, unbewußte Anschauung des menschlichen Wesens als eines andern Wesens. Dieses gegenständlich angeschaute Wesen aber zum Object der Reflexion, der Theologie ge- macht, so wird es zu einer unerschöpflichen Fundgrube von Lügen, Täuschungen, Blendwerken, Widersprü- chen und Sophismen.
Ein besonders charakteristischer Kunstgriff und Vortheil der christlichen Sophistik ist die Unerforschlichkeit, die Un- begreiflichkeit des göttlichen Wesens. Das Geheimniß dieser Unbegreiflichkeit ist nun aber, wie sich zeigen wird, nichts weiter, als daß eine bekannte Eigenschaft zu einer unbekannten, eine natürliche Qualität zu einer über-, d. h. unnatürlichen Quali- tät gemacht und eben dadurch der Schein, die Illusion er- zeugt wird, daß das göttliche Wesen ein andres als das menschliche und eo ipso ein unbegreifliches sei.
Im ursprünglichen Sinne der Religion hat die Unbe- greiflichkeit Gottes nur die Bedeutung eines affectvollen Aus- drucks. So rufen auch wir im Affect bei einer überraschenden Erscheinung aus: es ist unglaublich, es geht über alle Be- griffe, ob wir gleich später, wenn wir zur Besinnung gekom- men, den Gegenstand unsrer Verwunderung nichts weniger als unbegreiflich finden. Die religiöse Unbegreiflichkeit ist
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wußtſein hat, wie etwa die Subſtanz des Spinoza, iſt kein Gott. Die weſentliche Identität mit uns iſt die Haupt- bedingung der Gottheit; der Begriff der Gottheit wird ab- hängig gemacht von dem Begriffe der Perſönlichkeit, des Bewußtſeins, quo nihil majus cogitari potest. Aber ein Gott, ſo heißt es zugleich wieder, der nicht weſentlich von uns unterſchieden, iſt kein Gott.
Der Charakter der Religion iſt die unmittelbare, unwill- kührliche, unbewußte Anſchauung des menſchlichen Weſens als eines andern Weſens. Dieſes gegenſtändlich angeſchaute Weſen aber zum Object der Reflexion, der Theologie ge- macht, ſo wird es zu einer unerſchöpflichen Fundgrube von Lügen, Täuſchungen, Blendwerken, Widerſprü- chen und Sophismen.
Ein beſonders charakteriſtiſcher Kunſtgriff und Vortheil der chriſtlichen Sophiſtik iſt die Unerforſchlichkeit, die Un- begreiflichkeit des göttlichen Weſens. Das Geheimniß dieſer Unbegreiflichkeit iſt nun aber, wie ſich zeigen wird, nichts weiter, als daß eine bekannte Eigenſchaft zu einer unbekannten, eine natürliche Qualität zu einer über-, d. h. unnatürlichen Quali- tät gemacht und eben dadurch der Schein, die Illuſion er- zeugt wird, daß das göttliche Weſen ein andres als das menſchliche und eo ipso ein unbegreifliches ſei.
Im urſprünglichen Sinne der Religion hat die Unbe- greiflichkeit Gottes nur die Bedeutung eines affectvollen Aus- drucks. So rufen auch wir im Affect bei einer überraſchenden Erſcheinung aus: es iſt unglaublich, es geht über alle Be- griffe, ob wir gleich ſpäter, wenn wir zur Beſinnung gekom- men, den Gegenſtand unſrer Verwunderung nichts weniger als unbegreiflich finden. Die religiöſe Unbegreiflichkeit iſt
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wußtſein hat, wie etwa die Subſtanz des Spinoza, iſt kein
Gott. Die weſentliche Identität mit uns iſt die Haupt-
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Bewußtſeins, quo nihil majus cogitari potest. Aber ein
Gott, ſo heißt es zugleich wieder, der nicht weſentlich von
uns unterſchieden, iſt kein Gott.
Der Charakter der Religion iſt die unmittelbare, unwill-
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als eines andern Weſens. Dieſes gegenſtändlich angeſchaute
Weſen aber zum Object der Reflexion, der Theologie ge-
macht, ſo wird es zu einer unerſchöpflichen Fundgrube
von Lügen, Täuſchungen, Blendwerken, Widerſprü-
chen und Sophismen.
Ein beſonders charakteriſtiſcher Kunſtgriff und Vortheil
der chriſtlichen Sophiſtik iſt die Unerforſchlichkeit, die Un-
begreiflichkeit des göttlichen Weſens. Das Geheimniß dieſer
Unbegreiflichkeit iſt nun aber, wie ſich zeigen wird, nichts weiter,
als daß eine bekannte Eigenſchaft zu einer unbekannten, eine
natürliche Qualität zu einer über-, d. h. unnatürlichen Quali-
tät gemacht und eben dadurch der Schein, die Illuſion er-
zeugt wird, daß das göttliche Weſen ein andres als das
menſchliche und eo ipso ein unbegreifliches ſei.
Im urſprünglichen Sinne der Religion hat die Unbe-
greiflichkeit Gottes nur die Bedeutung eines affectvollen Aus-
drucks. So rufen auch wir im Affect bei einer überraſchenden
Erſcheinung aus: es iſt unglaublich, es geht über alle Be-
griffe, ob wir gleich ſpäter, wenn wir zur Beſinnung gekom-
men, den Gegenſtand unſrer Verwunderung nichts weniger
als unbegreiflich finden. Die religiöſe Unbegreiflichkeit iſt
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/309>, abgerufen am 24.11.2024.
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