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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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qualitativer Unterschied statt. Der Andere ist mein Du --
ob dieß gleich wechselseitig ist -- mein Alter Ego, der mir
gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere
-- das sich selbst sehende Auge. An dem Andern habe ich
erst das Bewußtsein der Menschheit. Durch ihn erst erfahre,
fühle ich, daß ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir
erst klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir
beide nicht ohne einander sein können, daß nur die Gemein-
samkeit die Menschheit constituirt. Aber eben so findet auch
moralisch ein qualitativer, ein kritischer Unterschied zwi-
schen dem Ich und Du statt. Der Andere ist mein gegen-
ständliches
Gewissen: er macht mir meine Fehler zum Vor-
wurf, auch wenn er sie mir nicht ausdrücklich sagt: er ist
mein personificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtsein des
Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit
selbst ist nur an das Bewußtsein des Andern gebunden. Wahr
ist, worin der Andere mit mir übereinstimmt -- Uebereinstimmung
ist das erste Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die
Gattung das letzte Maaß der Wahrheit ist. Was ich
nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran ist
der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden,
das ist eine zufällige, nur subjective Ansicht. Was ich aber
denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der
Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der
Einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folg-
lich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen
der Gattung übereinstimmt
, falsch, was ihr widerspricht.
Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der
Andere ist mir gegenüber der Repräsentant der Gattung, der
Stellvertreter der Andern im Plural, ja sein Urtheil kann

qualitativer Unterſchied ſtatt. Der Andere iſt mein Du
ob dieß gleich wechſelſeitig iſt — mein Alter Ego, der mir
gegenſtändliche Menſch, mein aufgeſchloſſenes Innere
— das ſich ſelbſt ſehende Auge. An dem Andern habe ich
erſt das Bewußtſein der Menſchheit. Durch ihn erſt erfahre,
fühle ich, daß ich Menſch bin; in der Liebe zu ihm wird mir
erſt klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir
beide nicht ohne einander ſein können, daß nur die Gemein-
ſamkeit die Menſchheit conſtituirt. Aber eben ſo findet auch
moraliſch ein qualitativer, ein kritiſcher Unterſchied zwi-
ſchen dem Ich und Du ſtatt. Der Andere iſt mein gegen-
ſtändliches
Gewiſſen: er macht mir meine Fehler zum Vor-
wurf, auch wenn er ſie mir nicht ausdrücklich ſagt: er iſt
mein perſonificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtſein des
Moralgeſetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit
ſelbſt iſt nur an das Bewußtſein des Andern gebunden. Wahr
iſt, worin der Andere mit mir übereinſtimmt — Uebereinſtimmung
iſt das erſte Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die
Gattung das letzte Maaß der Wahrheit iſt. Was ich
nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran iſt
der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden,
das iſt eine zufällige, nur ſubjective Anſicht. Was ich aber
denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der
Menſch überhaupt nur immer denken kann und folglich der
Einzelne denken muß, wenn er normal, geſetzmäßig und folg-
lich wahr denken will. Wahr iſt, was mit dem Weſen
der Gattung übereinſtimmt
, falſch, was ihr widerſpricht.
Ein anderes Geſetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der
Andere iſt mir gegenüber der Repräſentant der Gattung, der
Stellvertreter der Andern im Plural, ja ſein Urtheil kann

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[210/0228] qualitativer Unterſchied ſtatt. Der Andere iſt mein Du — ob dieß gleich wechſelſeitig iſt — mein Alter Ego, der mir gegenſtändliche Menſch, mein aufgeſchloſſenes Innere — das ſich ſelbſt ſehende Auge. An dem Andern habe ich erſt das Bewußtſein der Menſchheit. Durch ihn erſt erfahre, fühle ich, daß ich Menſch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erſt klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir beide nicht ohne einander ſein können, daß nur die Gemein- ſamkeit die Menſchheit conſtituirt. Aber eben ſo findet auch moraliſch ein qualitativer, ein kritiſcher Unterſchied zwi- ſchen dem Ich und Du ſtatt. Der Andere iſt mein gegen- ſtändliches Gewiſſen: er macht mir meine Fehler zum Vor- wurf, auch wenn er ſie mir nicht ausdrücklich ſagt: er iſt mein perſonificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtſein des Moralgeſetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit ſelbſt iſt nur an das Bewußtſein des Andern gebunden. Wahr iſt, worin der Andere mit mir übereinſtimmt — Uebereinſtimmung iſt das erſte Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die Gattung das letzte Maaß der Wahrheit iſt. Was ich nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran iſt der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das iſt eine zufällige, nur ſubjective Anſicht. Was ich aber denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der Menſch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, geſetzmäßig und folg- lich wahr denken will. Wahr iſt, was mit dem Weſen der Gattung übereinſtimmt, falſch, was ihr widerſpricht. Ein anderes Geſetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der Andere iſt mir gegenüber der Repräſentant der Gattung, der Stellvertreter der Andern im Plural, ja ſein Urtheil kann

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/228>, abgerufen am 27.04.2024.