qualitativer Unterschied statt. Der Andere ist mein Du -- ob dieß gleich wechselseitig ist -- mein Alter Ego, der mir gegenständliche Mensch, mein aufgeschlossenes Innere -- das sich selbst sehende Auge. An dem Andern habe ich erst das Bewußtsein der Menschheit. Durch ihn erst erfahre, fühle ich, daß ich Mensch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erst klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir beide nicht ohne einander sein können, daß nur die Gemein- samkeit die Menschheit constituirt. Aber eben so findet auch moralisch ein qualitativer, ein kritischer Unterschied zwi- schen dem Ich und Du statt. Der Andere ist mein gegen- ständliches Gewissen: er macht mir meine Fehler zum Vor- wurf, auch wenn er sie mir nicht ausdrücklich sagt: er ist mein personificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtsein des Moralgesetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit selbst ist nur an das Bewußtsein des Andern gebunden. Wahr ist, worin der Andere mit mir übereinstimmt -- Uebereinstimmung ist das erste Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die Gattung das letzte Maaß der Wahrheit ist. Was ich nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran ist der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das ist eine zufällige, nur subjective Ansicht. Was ich aber denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der Mensch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, gesetzmäßig und folg- lich wahr denken will. Wahr ist, was mit dem Wesen der Gattung übereinstimmt, falsch, was ihr widerspricht. Ein anderes Gesetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der Andere ist mir gegenüber der Repräsentant der Gattung, der Stellvertreter der Andern im Plural, ja sein Urtheil kann
qualitativer Unterſchied ſtatt. Der Andere iſt mein Du — ob dieß gleich wechſelſeitig iſt — mein Alter Ego, der mir gegenſtändliche Menſch, mein aufgeſchloſſenes Innere — das ſich ſelbſt ſehende Auge. An dem Andern habe ich erſt das Bewußtſein der Menſchheit. Durch ihn erſt erfahre, fühle ich, daß ich Menſch bin; in der Liebe zu ihm wird mir erſt klar, daß er zu mir und ich zu ihm gehöre, daß wir beide nicht ohne einander ſein können, daß nur die Gemein- ſamkeit die Menſchheit conſtituirt. Aber eben ſo findet auch moraliſch ein qualitativer, ein kritiſcher Unterſchied zwi- ſchen dem Ich und Du ſtatt. Der Andere iſt mein gegen- ſtändliches Gewiſſen: er macht mir meine Fehler zum Vor- wurf, auch wenn er ſie mir nicht ausdrücklich ſagt: er iſt mein perſonificirtes Schaamgefühl. Das Bewußtſein des Moralgeſetzes, des Rechtes, der Schicklichkeit, der Wahrheit ſelbſt iſt nur an das Bewußtſein des Andern gebunden. Wahr iſt, worin der Andere mit mir übereinſtimmt — Uebereinſtimmung iſt das erſte Kriterium der Wahrheit, aber nur deßwegen, weil die Gattung das letzte Maaß der Wahrheit iſt. Was ich nur denke nach dem Maaße meiner Individualität, daran iſt der Andere nicht gebunden, das kann anders gedacht werden, das iſt eine zufällige, nur ſubjective Anſicht. Was ich aber denke im Maaße der Gattung, das denke ich, wie es der Menſch überhaupt nur immer denken kann und folglich der Einzelne denken muß, wenn er normal, geſetzmäßig und folg- lich wahr denken will. Wahr iſt, was mit dem Weſen der Gattung übereinſtimmt, falſch, was ihr widerſpricht. Ein anderes Geſetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der Andere iſt mir gegenüber der Repräſentant der Gattung, der Stellvertreter der Andern im Plural, ja ſein Urtheil kann
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qualitativer Unterſchied ſtatt. Der Andere iſt mein Du —
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Menſch überhaupt nur immer denken kann und folglich der
Einzelne denken muß, wenn er normal, geſetzmäßig und folg-
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Ein anderes Geſetz der Wahrheit gibt es nicht. Aber der
Andere iſt mir gegenüber der Repräſentant der Gattung, der
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/228>, abgerufen am 21.11.2024.
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