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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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den hat. Wenn ich auch selbst nicht vollkommen sein kann,
so liebe ich doch wenigstens an Andern die Tugend, die Voll-
kommenheit. Wenn daher einst der liebe Gott wegen mei-
ner Sünden, Schwächen und Fehler mit mir rechten will, so
schiebe ich als Fürsprecher, als Mittelspersonen die Tugenden
meiner Freunde ein. Wie barbarisch, wie unvernünftig wäre
der Gott, der mich verdammte wegen Sünden, welche ich
wohl begangen, aber selbst in der Liebe zu meinen Freunden,
die frei von diesen Sünden waren, verdammte.

Wenn nun aber schon die Freundschaft, die Liebe, die
selbst nur subjective Realisationen der Gattung sind, aus für
sich unvollkommnen Wesen ein, wenigstens relativ, vollkomm-
nes Ganzes machen, wie viel mehr verschwinden in der Gat-
tung selbst, welche nur in der Gesammtheit der Menschheit ihr
adäquates Dasein hat und eben darum nur ein Gegenstand
der Vernunft ist, die Sünden und Fehler der einzelnen Men-
schen! Das Lamento über die Sünde kommt daher nur da
an die Tagesordnung, wo das menschliche Individuum in seiner
Individualität sich als ein für sich selbst vollkommnes,
completes, des Andern nicht
zur Realisirung der Gat-
tung, des vollkommenen Menschen, bedürftiges Wesen Gegen-
stand, wo an die Stelle des Bewußtseins der Gattung
das ausschließliche Selbstbewußtseins des Indivi-
duums
getreten ist, wo das Individuum sich nicht als einen
Theil der Menschheit weiß, sondern sich mit der Gattung
identificirt, und deßwegen seine Sünden, seine Schranken,
seine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schran-
ken und Schwächen der Menschheit selbst macht. Aber gleich-
wohl kann der Mensch das Bewußtsein der Gattung nicht
verlieren, denn sein Selbstbewußtsein ist wesentlich an das

den hat. Wenn ich auch ſelbſt nicht vollkommen ſein kann,
ſo liebe ich doch wenigſtens an Andern die Tugend, die Voll-
kommenheit. Wenn daher einſt der liebe Gott wegen mei-
ner Sünden, Schwächen und Fehler mit mir rechten will, ſo
ſchiebe ich als Fürſprecher, als Mittelsperſonen die Tugenden
meiner Freunde ein. Wie barbariſch, wie unvernünftig wäre
der Gott, der mich verdammte wegen Sünden, welche ich
wohl begangen, aber ſelbſt in der Liebe zu meinen Freunden,
die frei von dieſen Sünden waren, verdammte.

Wenn nun aber ſchon die Freundſchaft, die Liebe, die
ſelbſt nur ſubjective Realiſationen der Gattung ſind, aus für
ſich unvollkommnen Weſen ein, wenigſtens relativ, vollkomm-
nes Ganzes machen, wie viel mehr verſchwinden in der Gat-
tung ſelbſt, welche nur in der Geſammtheit der Menſchheit ihr
adäquates Daſein hat und eben darum nur ein Gegenſtand
der Vernunft iſt, die Sünden und Fehler der einzelnen Men-
ſchen! Das Lamento über die Sünde kommt daher nur da
an die Tagesordnung, wo das menſchliche Individuum in ſeiner
Individualität ſich als ein für ſich ſelbſt vollkommnes,
completes, des Andern nicht
zur Realiſirung der Gat-
tung, des vollkommenen Menſchen, bedürftiges Weſen Gegen-
ſtand, wo an die Stelle des Bewußtſeins der Gattung
das ausſchließliche Selbſtbewußtſeins des Indivi-
duums
getreten iſt, wo das Individuum ſich nicht als einen
Theil der Menſchheit weiß, ſondern ſich mit der Gattung
identificirt, und deßwegen ſeine Sünden, ſeine Schranken,
ſeine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schran-
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[208/0226] den hat. Wenn ich auch ſelbſt nicht vollkommen ſein kann, ſo liebe ich doch wenigſtens an Andern die Tugend, die Voll- kommenheit. Wenn daher einſt der liebe Gott wegen mei- ner Sünden, Schwächen und Fehler mit mir rechten will, ſo ſchiebe ich als Fürſprecher, als Mittelsperſonen die Tugenden meiner Freunde ein. Wie barbariſch, wie unvernünftig wäre der Gott, der mich verdammte wegen Sünden, welche ich wohl begangen, aber ſelbſt in der Liebe zu meinen Freunden, die frei von dieſen Sünden waren, verdammte. Wenn nun aber ſchon die Freundſchaft, die Liebe, die ſelbſt nur ſubjective Realiſationen der Gattung ſind, aus für ſich unvollkommnen Weſen ein, wenigſtens relativ, vollkomm- nes Ganzes machen, wie viel mehr verſchwinden in der Gat- tung ſelbſt, welche nur in der Geſammtheit der Menſchheit ihr adäquates Daſein hat und eben darum nur ein Gegenſtand der Vernunft iſt, die Sünden und Fehler der einzelnen Men- ſchen! Das Lamento über die Sünde kommt daher nur da an die Tagesordnung, wo das menſchliche Individuum in ſeiner Individualität ſich als ein für ſich ſelbſt vollkommnes, completes, des Andern nicht zur Realiſirung der Gat- tung, des vollkommenen Menſchen, bedürftiges Weſen Gegen- ſtand, wo an die Stelle des Bewußtſeins der Gattung das ausſchließliche Selbſtbewußtſeins des Indivi- duums getreten iſt, wo das Individuum ſich nicht als einen Theil der Menſchheit weiß, ſondern ſich mit der Gattung identificirt, und deßwegen ſeine Sünden, ſeine Schranken, ſeine Schwächen zu allgemeinen Sünden, zu Sünden, Schran- ken und Schwächen der Menſchheit ſelbſt macht. Aber gleich- wohl kann der Menſch das Bewußtſein der Gattung nicht verlieren, denn ſein Selbſtbewußtſein iſt weſentlich an das

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/226>, abgerufen am 28.04.2024.