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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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lisirt augenblicklich, mit einem Schlag, ohne alles Hin-
derniß
die menschlichen Wünsche. Daß Kranke gesund wer-
den, das ist kein Wunder, aber daß sie unmittelbar auf einen
bloßen Machtspruch hin gesund werden, das ist das Ge-
heimniß des Wunders. Nicht also durch das Product oder
Object, welches sie hervorbringt -- würde die Wundermacht
etwas absolut Neues, nie Gesehenes, nie Vorgestelltes, auch
nicht einmal Erdenkbares verwirklichen, so wäre sie als eine
wesentlich andere und zugleich objective Thätigkeit fac-
tisch erwiesen -- sondern allein durch den Modus, die Art
und Weise
unterscheidet sich die Wunderthätigkeit von der
Thätigkeit der Natur und Vernunft. Allein die Thätigkeit,
welche dem Wesen, dem Inhalt nach eine natürliche, sinn-
liche, nur dem Modus nach eine übernatürliche, über-
sinnliche
ist, diese Thätigkeit ist nur die Phantasie oder Ein-
bildungskraft. Die Macht des Wunders ist daher nichts
andres als die Macht der Einbildungskraft.

Die Wunderthätigkeit ist eine Zweckthätigkeit. Die Sehn-
sucht nach dem verlornen Lazarus, der Wunsch seiner Ver-
wandten, ihn wieder zu besitzen, war der Beweggrund der
wunderbaren Erweckung -- die That selbst, die Befriedigung
dieses Wunsches, der Zweck. Allerdings geschah zugleich das
Wunder "zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch
geehret werde," aber die Schwestern des Lazarus, die nach
dem Herrn schicken mit den Worten: "siehe, den du lieb hast,
der liegt krank" und die Thränen, die Jesus vergoß, vindi-
ciren zugleich dem Wunder einen menschlichen Ursprung und
Zweck. Der Sinn ist: der Macht, die selbst Todte erwecken
kann, ist kein menschlicher Wunsch unerfüllbar. Die Zweck-
thätigkeit beschreibt bekanntlich einen Kreis: sie läuft im Ende

liſirt augenblicklich, mit einem Schlag, ohne alles Hin-
derniß
die menſchlichen Wünſche. Daß Kranke geſund wer-
den, das iſt kein Wunder, aber daß ſie unmittelbar auf einen
bloßen Machtſpruch hin geſund werden, das iſt das Ge-
heimniß des Wunders. Nicht alſo durch das Product oder
Object, welches ſie hervorbringt — würde die Wundermacht
etwas abſolut Neues, nie Geſehenes, nie Vorgeſtelltes, auch
nicht einmal Erdenkbares verwirklichen, ſo wäre ſie als eine
weſentlich andere und zugleich objective Thätigkeit fac-
tiſch erwieſen — ſondern allein durch den Modus, die Art
und Weiſe
unterſcheidet ſich die Wunderthätigkeit von der
Thätigkeit der Natur und Vernunft. Allein die Thätigkeit,
welche dem Weſen, dem Inhalt nach eine natürliche, ſinn-
liche, nur dem Modus nach eine übernatürliche, über-
ſinnliche
iſt, dieſe Thätigkeit iſt nur die Phantaſie oder Ein-
bildungskraft. Die Macht des Wunders iſt daher nichts
andres als die Macht der Einbildungskraft.

Die Wunderthätigkeit iſt eine Zweckthätigkeit. Die Sehn-
ſucht nach dem verlornen Lazarus, der Wunſch ſeiner Ver-
wandten, ihn wieder zu beſitzen, war der Beweggrund der
wunderbaren Erweckung — die That ſelbſt, die Befriedigung
dieſes Wunſches, der Zweck. Allerdings geſchah zugleich das
Wunder „zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch
geehret werde,“ aber die Schweſtern des Lazarus, die nach
dem Herrn ſchicken mit den Worten: „ſiehe, den du lieb haſt,
der liegt krank“ und die Thränen, die Jeſus vergoß, vindi-
ciren zugleich dem Wunder einen menſchlichen Urſprung und
Zweck. Der Sinn iſt: der Macht, die ſelbſt Todte erwecken
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thätigkeit beſchreibt bekanntlich einen Kreis: ſie läuft im Ende

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[168/0186] liſirt augenblicklich, mit einem Schlag, ohne alles Hin- derniß die menſchlichen Wünſche. Daß Kranke geſund wer- den, das iſt kein Wunder, aber daß ſie unmittelbar auf einen bloßen Machtſpruch hin geſund werden, das iſt das Ge- heimniß des Wunders. Nicht alſo durch das Product oder Object, welches ſie hervorbringt — würde die Wundermacht etwas abſolut Neues, nie Geſehenes, nie Vorgeſtelltes, auch nicht einmal Erdenkbares verwirklichen, ſo wäre ſie als eine weſentlich andere und zugleich objective Thätigkeit fac- tiſch erwieſen — ſondern allein durch den Modus, die Art und Weiſe unterſcheidet ſich die Wunderthätigkeit von der Thätigkeit der Natur und Vernunft. Allein die Thätigkeit, welche dem Weſen, dem Inhalt nach eine natürliche, ſinn- liche, nur dem Modus nach eine übernatürliche, über- ſinnliche iſt, dieſe Thätigkeit iſt nur die Phantaſie oder Ein- bildungskraft. Die Macht des Wunders iſt daher nichts andres als die Macht der Einbildungskraft. Die Wunderthätigkeit iſt eine Zweckthätigkeit. Die Sehn- ſucht nach dem verlornen Lazarus, der Wunſch ſeiner Ver- wandten, ihn wieder zu beſitzen, war der Beweggrund der wunderbaren Erweckung — die That ſelbſt, die Befriedigung dieſes Wunſches, der Zweck. Allerdings geſchah zugleich das Wunder „zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde,“ aber die Schweſtern des Lazarus, die nach dem Herrn ſchicken mit den Worten: „ſiehe, den du lieb haſt, der liegt krank“ und die Thränen, die Jeſus vergoß, vindi- ciren zugleich dem Wunder einen menſchlichen Urſprung und Zweck. Der Sinn iſt: der Macht, die ſelbſt Todte erwecken kann, iſt kein menſchlicher Wunſch unerfüllbar. Die Zweck- thätigkeit beſchreibt bekanntlich einen Kreis: ſie läuft im Ende

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/186>, abgerufen am 01.05.2024.