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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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der Herrschaft des egoistischen Willens; es reagirt, leistet Wi-
derstand. Was der vertilgungssüchtige Egoismus dem Tode
weiht, das gibt die liebevolle Theorie dem Leben wieder.

Die so sehr verkannte Ewigkeit der Materie oder Welt bei
den heidnischen Philosophen hat keinen andern Sinn, als daß
ihnen die Natur eine theoretische Realität war *). Die
Heiden waren Götzendiener, d. h. sie schauten die Natur
an; sie thaten nichts andres, als was die tiefchristlichen Völ-
ker heute thun, wenn sie die Natur zum Gegenstande ihrer
Bewunderung, ihrer unermüdlichen Forschung machen. "Aber
die Heiden beteten ja die Naturgegenstände an." Allerdings;
allein die Anbetung ist nur die kindliche, die religiöse Form
der Anschauung
. Anschauung und Anbetung unterscheiden
sich nicht wesentlich. Was ich anschaue, vor dem demüthige
ich mich, dem weihe ich das Herrlichste, was ich habe, mein
Herz, meine Intelligenz zum Opfer. Auch der Naturforscher
fällt vor der Natur auf die Kniee nieder, wenn er eine Flechte,
ein Insect, einen Stein selbst mit Lebensgefahr aus der Tiefe
der Erde hervorgräbt, um ihn im Lichte der Anschauung zu
verherrlichen und im Andenken der wissenschaftlichen Mensch-
heit zu verewigen. Naturstudium ist Naturdienst, und
Götzendienst nichts als die erste Naturanschauung des
Menschen; denn die Religion ist nichts andres als die erste,
darum kindliche, volksthümliche, aber befangene, unfreie Natur-
und Selbstanschauung des Menschen. Die Hebräer dagegen

*) Uebrigens dachten sie bekanntlich verschieden hierüber. (S. z. B.
Aristoteles de coelo l. I. c. 10.) Aber ihre Differenz ist eine untergeord-
nete, da das schaffende Wesen bei ihnen mehr oder weniger selbst ein kosmi-
sches Wesen ist.

der Herrſchaft des egoiſtiſchen Willens; es reagirt, leiſtet Wi-
derſtand. Was der vertilgungsſüchtige Egoismus dem Tode
weiht, das gibt die liebevolle Theorie dem Leben wieder.

Die ſo ſehr verkannte Ewigkeit der Materie oder Welt bei
den heidniſchen Philoſophen hat keinen andern Sinn, als daß
ihnen die Natur eine theoretiſche Realität war *). Die
Heiden waren Götzendiener, d. h. ſie ſchauten die Natur
an; ſie thaten nichts andres, als was die tiefchriſtlichen Völ-
ker heute thun, wenn ſie die Natur zum Gegenſtande ihrer
Bewunderung, ihrer unermüdlichen Forſchung machen. „Aber
die Heiden beteten ja die Naturgegenſtände an.“ Allerdings;
allein die Anbetung iſt nur die kindliche, die religiöſe Form
der Anſchauung
. Anſchauung und Anbetung unterſcheiden
ſich nicht weſentlich. Was ich anſchaue, vor dem demüthige
ich mich, dem weihe ich das Herrlichſte, was ich habe, mein
Herz, meine Intelligenz zum Opfer. Auch der Naturforſcher
fällt vor der Natur auf die Kniee nieder, wenn er eine Flechte,
ein Inſect, einen Stein ſelbſt mit Lebensgefahr aus der Tiefe
der Erde hervorgräbt, um ihn im Lichte der Anſchauung zu
verherrlichen und im Andenken der wiſſenſchaftlichen Menſch-
heit zu verewigen. Naturſtudium iſt Naturdienſt, und
Götzendienſt nichts als die erſte Naturanſchauung des
Menſchen; denn die Religion iſt nichts andres als die erſte,
darum kindliche, volksthümliche, aber befangene, unfreie Natur-
und Selbſtanſchauung des Menſchen. Die Hebräer dagegen

*) Uebrigens dachten ſie bekanntlich verſchieden hierüber. (S. z. B.
Aristoteles de coelo l. I. c. 10.) Aber ihre Differenz iſt eine untergeord-
nete, da das ſchaffende Weſen bei ihnen mehr oder weniger ſelbſt ein kosmi-
ſches Weſen iſt.
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[149/0167] der Herrſchaft des egoiſtiſchen Willens; es reagirt, leiſtet Wi- derſtand. Was der vertilgungsſüchtige Egoismus dem Tode weiht, das gibt die liebevolle Theorie dem Leben wieder. Die ſo ſehr verkannte Ewigkeit der Materie oder Welt bei den heidniſchen Philoſophen hat keinen andern Sinn, als daß ihnen die Natur eine theoretiſche Realität war *). Die Heiden waren Götzendiener, d. h. ſie ſchauten die Natur an; ſie thaten nichts andres, als was die tiefchriſtlichen Völ- ker heute thun, wenn ſie die Natur zum Gegenſtande ihrer Bewunderung, ihrer unermüdlichen Forſchung machen. „Aber die Heiden beteten ja die Naturgegenſtände an.“ Allerdings; allein die Anbetung iſt nur die kindliche, die religiöſe Form der Anſchauung. Anſchauung und Anbetung unterſcheiden ſich nicht weſentlich. Was ich anſchaue, vor dem demüthige ich mich, dem weihe ich das Herrlichſte, was ich habe, mein Herz, meine Intelligenz zum Opfer. Auch der Naturforſcher fällt vor der Natur auf die Kniee nieder, wenn er eine Flechte, ein Inſect, einen Stein ſelbſt mit Lebensgefahr aus der Tiefe der Erde hervorgräbt, um ihn im Lichte der Anſchauung zu verherrlichen und im Andenken der wiſſenſchaftlichen Menſch- heit zu verewigen. Naturſtudium iſt Naturdienſt, und Götzendienſt nichts als die erſte Naturanſchauung des Menſchen; denn die Religion iſt nichts andres als die erſte, darum kindliche, volksthümliche, aber befangene, unfreie Natur- und Selbſtanſchauung des Menſchen. Die Hebräer dagegen *) Uebrigens dachten ſie bekanntlich verſchieden hierüber. (S. z. B. Aristoteles de coelo l. I. c. 10.) Aber ihre Differenz iſt eine untergeord- nete, da das ſchaffende Weſen bei ihnen mehr oder weniger ſelbſt ein kosmi- ſches Weſen iſt.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/167>, abgerufen am 01.05.2024.