Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Wahrheit ist ihm durchaus nur Eine, nur ein
Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht
keine Seite derselben einer andern vor. Gei-
stesbildung
selbst aber ist ihm auch nur ein
Theil der ganzen Bildung
, und es fällt
ihm nicht ein, lediglich durch sie vollendet zu
haben; eben so wenig, als es ihm einfallen wird,
sie entbehren zu wollen. Er sieht sehr gut, und
scheut sich nicht, es zu gestehen, wie sehr andre
hierinn hinter ihm zurück sind; aber er ereifert
sich darüber nicht, weil er weiß, wie viel auch
hierinn vom Glücke abhänge. Er drängt sein
Licht, noch weniger den bloßen Schein seines
Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit
ist, jedem, der da begehrt, soviel zu geben, als
er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande
zu geben, das ihm das gefälligste ist, läßt er
es doch auch gut seyn, wenn niemand seine
Leuchte begehrt. Er ist durchaus rechtschaffen,
gewissenhaft, streng gegen sich selbst in seinem
Innern, ohne äußerlich das geringste Wesen mit
seiner Tugend zu machen, und den Anblick der-
selben andern, durch Versicherungen über seine
Ehrlichkeit, durch stark hervorspringende Aufop-
ferungen, durch Affectation eines hohen Ernstes
aufzudringen. Seine Tugend ist eben so kunst-
los und, ich dürfte sagen, schamhaft, als seine
Weisheit; die herrschende Empfindung bei den

Wahrheit iſt ihm durchaus nur Eine, nur ein
Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht
keine Seite derſelben einer andern vor. Gei-
ſtesbildung
ſelbſt aber iſt ihm auch nur ein
Theil der ganzen Bildung
, und es faͤllt
ihm nicht ein, lediglich durch ſie vollendet zu
haben; eben ſo wenig, als es ihm einfallen wird,
ſie entbehren zu wollen. Er ſieht ſehr gut, und
ſcheut ſich nicht, es zu geſtehen, wie ſehr andre
hierinn hinter ihm zuruͤck ſind; aber er ereifert
ſich daruͤber nicht, weil er weiß, wie viel auch
hierinn vom Gluͤcke abhaͤnge. Er draͤngt ſein
Licht, noch weniger den bloßen Schein ſeines
Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit
iſt, jedem, der da begehrt, ſoviel zu geben, als
er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande
zu geben, das ihm das gefaͤlligſte iſt, laͤßt er
es doch auch gut ſeyn, wenn niemand ſeine
Leuchte begehrt. Er iſt durchaus rechtſchaffen,
gewiſſenhaft, ſtreng gegen ſich ſelbſt in ſeinem
Innern, ohne aͤußerlich das geringſte Weſen mit
ſeiner Tugend zu machen, und den Anblick der-
ſelben andern, durch Verſicherungen uͤber ſeine
Ehrlichkeit, durch ſtark hervorſpringende Aufop-
ferungen, durch Affectation eines hohen Ernſtes
aufzudringen. Seine Tugend iſt eben ſo kunſt-
los und, ich duͤrfte ſagen, ſchamhaft, als ſeine
Weisheit; die herrſchende Empfindung bei den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0027" n="5"/>
Wahrheit i&#x017F;t ihm durchaus nur <hi rendition="#g">Eine</hi>, nur ein<lb/>
Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht<lb/>
keine Seite der&#x017F;elben einer andern vor. <hi rendition="#g">Gei-<lb/>
&#x017F;tesbildung</hi> &#x017F;elb&#x017F;t aber i&#x017F;t ihm auch nur <hi rendition="#g">ein<lb/>
Theil der ganzen Bildung</hi>, und es fa&#x0364;llt<lb/>
ihm nicht ein, lediglich durch &#x017F;ie vollendet zu<lb/>
haben; eben &#x017F;o wenig, als es ihm einfallen wird,<lb/>
&#x017F;ie entbehren zu wollen. Er &#x017F;ieht &#x017F;ehr gut, und<lb/>
&#x017F;cheut &#x017F;ich nicht, es zu ge&#x017F;tehen, wie &#x017F;ehr andre<lb/>
hierinn hinter ihm zuru&#x0364;ck &#x017F;ind; aber er ereifert<lb/>
&#x017F;ich daru&#x0364;ber nicht, weil er weiß, wie viel auch<lb/>
hierinn vom Glu&#x0364;cke abha&#x0364;nge. Er dra&#x0364;ngt &#x017F;ein<lb/>
Licht, noch weniger den bloßen Schein &#x017F;eines<lb/>
Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit<lb/>
i&#x017F;t, jedem, der da begehrt, &#x017F;oviel zu geben, als<lb/>
er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande<lb/>
zu geben, das ihm das gefa&#x0364;llig&#x017F;te i&#x017F;t, la&#x0364;ßt er<lb/>
es doch auch gut &#x017F;eyn, wenn niemand &#x017F;eine<lb/>
Leuchte begehrt. Er i&#x017F;t durchaus recht&#x017F;chaffen,<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;enhaft, &#x017F;treng gegen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t in &#x017F;einem<lb/>
Innern, ohne a&#x0364;ußerlich das gering&#x017F;te We&#x017F;en mit<lb/>
&#x017F;einer Tugend zu machen, und den Anblick der-<lb/>
&#x017F;elben andern, durch Ver&#x017F;icherungen u&#x0364;ber &#x017F;eine<lb/>
Ehrlichkeit, durch &#x017F;tark hervor&#x017F;pringende Aufop-<lb/>
ferungen, durch Affectation eines hohen Ern&#x017F;tes<lb/>
aufzudringen. Seine Tugend i&#x017F;t eben &#x017F;o kun&#x017F;t-<lb/>
los und, ich du&#x0364;rfte &#x017F;agen, &#x017F;chamhaft, als &#x017F;eine<lb/>
Weisheit; die herr&#x017F;chende Empfindung bei den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0027] Wahrheit iſt ihm durchaus nur Eine, nur ein Einziges, untheilbares Ganzes, und er zieht keine Seite derſelben einer andern vor. Gei- ſtesbildung ſelbſt aber iſt ihm auch nur ein Theil der ganzen Bildung, und es faͤllt ihm nicht ein, lediglich durch ſie vollendet zu haben; eben ſo wenig, als es ihm einfallen wird, ſie entbehren zu wollen. Er ſieht ſehr gut, und ſcheut ſich nicht, es zu geſtehen, wie ſehr andre hierinn hinter ihm zuruͤck ſind; aber er ereifert ſich daruͤber nicht, weil er weiß, wie viel auch hierinn vom Gluͤcke abhaͤnge. Er draͤngt ſein Licht, noch weniger den bloßen Schein ſeines Lichts, keinem auf; wiewohl er immer bereit iſt, jedem, der da begehrt, ſoviel zu geben, als er tragen kann, und es ihm in jedem Gewande zu geben, das ihm das gefaͤlligſte iſt, laͤßt er es doch auch gut ſeyn, wenn niemand ſeine Leuchte begehrt. Er iſt durchaus rechtſchaffen, gewiſſenhaft, ſtreng gegen ſich ſelbſt in ſeinem Innern, ohne aͤußerlich das geringſte Weſen mit ſeiner Tugend zu machen, und den Anblick der- ſelben andern, durch Verſicherungen uͤber ſeine Ehrlichkeit, durch ſtark hervorſpringende Aufop- ferungen, durch Affectation eines hohen Ernſtes aufzudringen. Seine Tugend iſt eben ſo kunſt- los und, ich duͤrfte ſagen, ſchamhaft, als ſeine Weisheit; die herrſchende Empfindung bei den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/27
Zitationshilfe: [Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/27>, abgerufen am 28.03.2024.