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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803.

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außer der Verbindung, ihr gekommen
seyn würde
. Dieß gilt bei dem wachen Men-
schen sogar von jedem neuen Verhältnisse, in wel-
ches er eintritt.

Ich nehme hier Reife und gemeinmensch-
liche Ausbildung
für gleichbedeutend, und zwar
mit Recht. Einseitige Bildung ist immer Unreife;
wenn auch an einer Seite Ueberreife seyn sollte,
so ist doch dafür gewiß an andern Seiten herbe,
saure Unreife.

Das Hauptkennzeichen der Reife ist: Kraft,
durch Anmuth gemildert
. -- Alle jene ge-
waltsamen Ereiferungen, jene weiten Anläufe und
Ausholungen sind die ersten, auch nothwendigen
Renkungen und Regungen der sich entwickelnden
Kraft; aber sie sind nicht mehr vorhanden, nach-
dem die Entwickelung vollendet, und die schöne
geistige Form in sich selbst gerundet ist. Oder daß
ich es mit den Kunstwörtern der Schule sage:
So wie die Reife erfolgt, vermählt holde Poesie
sich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht-
schaffenheit des Herzens, und die Schönheit
tritt in den Bund mit der Weisheit und
Stärke.

Dies ist das Bild des reifen, ausgebildeten
Mannes, wie ich mir ihn denke:

Sein Kopf ist durchaus klar und von Vor-
urtheilen aller Art frei. Er herrscht im Reiche
der Begriffe und übersieht das Gebiet der mensch-
lichen Wahrheit so weit als möglich. Aber die

außer der Verbindung, ihr gekommen
ſeyn wuͤrde
. Dieß gilt bei dem wachen Men-
ſchen ſogar von jedem neuen Verhaͤltniſſe, in wel-
ches er eintritt.

Ich nehme hier Reife und gemeinmenſch-
liche Ausbildung
fuͤr gleichbedeutend, und zwar
mit Recht. Einſeitige Bildung iſt immer Unreife;
wenn auch an einer Seite Ueberreife ſeyn ſollte,
ſo iſt doch dafuͤr gewiß an andern Seiten herbe,
ſaure Unreife.

Das Hauptkennzeichen der Reife iſt: Kraft,
durch Anmuth gemildert
. — Alle jene ge-
waltſamen Ereiferungen, jene weiten Anlaͤufe und
Ausholungen ſind die erſten, auch nothwendigen
Renkungen und Regungen der ſich entwickelnden
Kraft; aber ſie ſind nicht mehr vorhanden, nach-
dem die Entwickelung vollendet, und die ſchoͤne
geiſtige Form in ſich ſelbſt gerundet iſt. Oder daß
ich es mit den Kunſtwoͤrtern der Schule ſage:
So wie die Reife erfolgt, vermaͤhlt holde Poeſie
ſich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht-
ſchaffenheit des Herzens, und die Schoͤnheit
tritt in den Bund mit der Weisheit und
Staͤrke.

Dies iſt das Bild des reifen, ausgebildeten
Mannes, wie ich mir ihn denke:

Sein Kopf iſt durchaus klar und von Vor-
urtheilen aller Art frei. Er herrſcht im Reiche
der Begriffe und uͤberſieht das Gebiet der menſch-
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[4/0026] außer der Verbindung, ihr gekommen ſeyn wuͤrde. Dieß gilt bei dem wachen Men- ſchen ſogar von jedem neuen Verhaͤltniſſe, in wel- ches er eintritt. Ich nehme hier Reife und gemeinmenſch- liche Ausbildung fuͤr gleichbedeutend, und zwar mit Recht. Einſeitige Bildung iſt immer Unreife; wenn auch an einer Seite Ueberreife ſeyn ſollte, ſo iſt doch dafuͤr gewiß an andern Seiten herbe, ſaure Unreife. Das Hauptkennzeichen der Reife iſt: Kraft, durch Anmuth gemildert. — Alle jene ge- waltſamen Ereiferungen, jene weiten Anlaͤufe und Ausholungen ſind die erſten, auch nothwendigen Renkungen und Regungen der ſich entwickelnden Kraft; aber ſie ſind nicht mehr vorhanden, nach- dem die Entwickelung vollendet, und die ſchoͤne geiſtige Form in ſich ſelbſt gerundet iſt. Oder daß ich es mit den Kunſtwoͤrtern der Schule ſage: So wie die Reife erfolgt, vermaͤhlt holde Poeſie ſich mit der Klarheit des Kopfes und der Recht- ſchaffenheit des Herzens, und die Schoͤnheit tritt in den Bund mit der Weisheit und Staͤrke. Dies iſt das Bild des reifen, ausgebildeten Mannes, wie ich mir ihn denke: Sein Kopf iſt durchaus klar und von Vor- urtheilen aller Art frei. Er herrſcht im Reiche der Begriffe und uͤberſieht das Gebiet der menſch- lichen Wahrheit ſo weit als moͤglich. Aber die

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Zitationshilfe: [Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/26>, abgerufen am 16.04.2024.