seines neunzehnjährigen Lebens in und mit der Welt noch wenig Menschen gefunden hat, die nicht gleich, nachdem man über das Wetter einig gewor- den, und mit den Altagsneuigkeiten fertig ist, ent- weder den Ueberrock unvermerkt weg schoben, um den ihr Herz und ihre Menschheit völlig zerdrücken- den Stern ihrer Gelehrsamkeit zu zeigen, oder in das Moralisiren verfielen. Mit den Erstern wäre noch auszukommen, aber mit den letztern ist es arg. Moralisirend betrügen sie jeden Schwach- kopf um seine Aufmerksamkeit und Achtung; moralisirend wollen sie die Aufmerksamkeit des scharfsichtigern Geistes von sich ablenken, mora- lisirend tödten sie gute Nahmen Haufenweise wie Fliegen, moralisirend verleumden sie jeden, der ihrem Stolze nicht fröhnen, ihrem Eigennutze nicht dienen will, oder von dem sie nur in der Ferne fürchten, daß er einmahl ihr aussätziges Fleisch und ihre Eiterbeulen entdecken könnte. Die mora- lisirenden Menschen also, und nur die wer- den am öftersten an Feßler irre werden, denn in der Regel fängt er bei diesen mit stiller Aufmerk- samkeit an, fährt mit Offenheit und Freimüthig- keit fort, und macht mit entfernender Zurückhal- tung, dem sichern Merkmale, daß er sich nicht blenden lasse, den Beschluß. -- Bei dieser auf- richtig angegebenen und mit ihm alt gewordenen Sinnes- und Gemüthsart, muß er es sich freilich gefallen lassen, wenn Phantasien, wie Herr von Held "seine Person und Physiognomie eher zu- "rückstoßend als anziehend" finden, und "ihn am
"lieb-
ſeines neunzehnjaͤhrigen Lebens in und mit der Welt noch wenig Menſchen gefunden hat, die nicht gleich, nachdem man uͤber das Wetter einig gewor- den, und mit den Altagsneuigkeiten fertig iſt, ent- weder den Ueberrock unvermerkt weg ſchoben, um den ihr Herz und ihre Menſchheit voͤllig zerdruͤcken- den Stern ihrer Gelehrſamkeit zu zeigen, oder in das Moraliſiren verfielen. Mit den Erſtern waͤre noch auszukommen, aber mit den letztern iſt es arg. Moraliſirend betruͤgen ſie jeden Schwach- kopf um ſeine Aufmerkſamkeit und Achtung; moraliſirend wollen ſie die Aufmerkſamkeit des ſcharfſichtigern Geiſtes von ſich ablenken, mora- liſirend toͤdten ſie gute Nahmen Haufenweiſe wie Fliegen, moraliſirend verleumden ſie jeden, der ihrem Stolze nicht froͤhnen, ihrem Eigennutze nicht dienen will, oder von dem ſie nur in der Ferne fuͤrchten, daß er einmahl ihr ausſaͤtziges Fleiſch und ihre Eiterbeulen entdecken koͤnnte. Die mora- liſirenden Menſchen alſo, und nur die wer- den am oͤfterſten an Feßler irre werden, denn in der Regel faͤngt er bei dieſen mit ſtiller Aufmerk- ſamkeit an, faͤhrt mit Offenheit und Freimuͤthig- keit fort, und macht mit entfernender Zuruͤckhal- tung, dem ſichern Merkmale, daß er ſich nicht blenden laſſe, den Beſchluß. — Bei dieſer auf- richtig angegebenen und mit ihm alt gewordenen Sinnes- und Gemuͤthsart, muß er es ſich freilich gefallen laſſen, wenn Phantaſien, wie Herr von Held „ſeine Perſon und Phyſiognomie eher zu- „ruͤckſtoßend als anziehend“ finden, und „ihn am
„lieb-
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ſeines neunzehnjaͤhrigen Lebens in und mit der
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weder den Ueberrock unvermerkt weg ſchoben, um
den ihr Herz und ihre Menſchheit voͤllig zerdruͤcken-
den Stern ihrer Gelehrſamkeit zu zeigen, oder in
das Moraliſiren verfielen. Mit den Erſtern
waͤre noch auszukommen, aber mit den letztern iſt
es arg. Moraliſirend betruͤgen ſie jeden Schwach-
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moraliſirend wollen ſie die Aufmerkſamkeit des
ſcharfſichtigern Geiſtes von ſich ablenken, mora-
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ihrem Stolze nicht froͤhnen, ihrem Eigennutze nicht
dienen will, oder von dem ſie nur in der Ferne
fuͤrchten, daß er einmahl ihr ausſaͤtziges Fleiſch
und ihre Eiterbeulen entdecken koͤnnte. Die mora-
liſirenden Menſchen alſo, und nur die wer-
den am oͤfterſten an Feßler irre werden, denn in
der Regel faͤngt er bei dieſen mit ſtiller Aufmerk-
ſamkeit an, faͤhrt mit Offenheit und Freimuͤthig-
keit fort, und macht mit entfernender Zuruͤckhal-
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blenden laſſe, den Beſchluß. — Bei dieſer auf-
richtig angegebenen und mit ihm alt gewordenen
Sinnes- und Gemuͤthsart, muß er es ſich freilich
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. Berlin, 1803, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien02_1803/118>, abgerufen am 24.11.2024.
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