Geistes; er liegt in seinem Innersten, kein ande- rer Sterblicher darf es wagen, über den Gehalt desselben zu entscheiden. Jeder hat die Richtigkeit desselben lediglich vor seinem Gewissen und vor Gott zu erproben.
Ob dieses Erproben unseren heimgegangenen Brüdern leicht oder schwer gefallen seyn dürfte; dieß, trauernde Brüder, lasset uns zu unserer ei- genen Belehrung aus dem Gehalt ihrer characte- ristischen Aeußerungen und aus dem Schein ihrer Thaten folgern.
Liebreiche Schonung und Nachsicht gegen alle Menschen war der stärkste Characterzug unseres verewigten Bruders B. Es war zugleich der herr- schende, denn er ward unter allen Umständen und Verhältnissen sichtbar. Nie wagte Er es, aus ein- zelnen Thaten, selbst wenn ihm sein sittliches Ge- fühl Mißbilligung derselben geboth, über den sitt- lichen Werth des Menschen abzusprechen. Der anmaßende, strenge Beurtheiler seiner Nebenmen- schen fand an ihm den entschiedensten Gegner. Dieser schöne und edle, in seine ganze Handlungs- weise einfließende Characterzug konnte nur, ent- weder in einer mehr als gewöhnlichen Geistes- schwäche und Stumpfsinnigkeit, oder in einer in- nigern Kenntniß seiner selbst, und der daraus nothwendig folgenden tieferen Menschenkenntniß, seinen Grund haben. Im erstern Falle mußte seine Handlungsweise in Bezug auf andere Men- schen unbeständig, schwankend, sich selbst wider-
Geiſtes; er liegt in ſeinem Innerſten, kein ande- rer Sterblicher darf es wagen, uͤber den Gehalt deſſelben zu entſcheiden. Jeder hat die Richtigkeit deſſelben lediglich vor ſeinem Gewiſſen und vor Gott zu erproben.
Ob dieſes Erproben unſeren heimgegangenen Bruͤdern leicht oder ſchwer gefallen ſeyn duͤrfte; dieß, trauernde Bruͤder, laſſet uns zu unſerer ei- genen Belehrung aus dem Gehalt ihrer characte- riſtiſchen Aeußerungen und aus dem Schein ihrer Thaten folgern.
Liebreiche Schonung und Nachſicht gegen alle Menſchen war der ſtaͤrkſte Characterzug unſeres verewigten Bruders B. Es war zugleich der herr- ſchende, denn er ward unter allen Umſtaͤnden und Verhaͤltniſſen ſichtbar. Nie wagte Er es, aus ein- zelnen Thaten, ſelbſt wenn ihm ſein ſittliches Ge- fuͤhl Mißbilligung derſelben geboth, uͤber den ſitt- lichen Werth des Menſchen abzuſprechen. Der anmaßende, ſtrenge Beurtheiler ſeiner Nebenmen- ſchen fand an ihm den entſchiedenſten Gegner. Dieſer ſchoͤne und edle, in ſeine ganze Handlungs- weiſe einfließende Characterzug konnte nur, ent- weder in einer mehr als gewoͤhnlichen Geiſtes- ſchwaͤche und Stumpfſinnigkeit, oder in einer in- nigern Kenntniß ſeiner ſelbſt, und der daraus nothwendig folgenden tieferen Menſchenkenntniß, ſeinen Grund haben. Im erſtern Falle mußte ſeine Handlungsweiſe in Bezug auf andere Men- ſchen unbeſtaͤndig, ſchwankend, ſich ſelbſt wider-
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Geiſtes; er liegt in ſeinem Innerſten, kein ande-
rer Sterblicher darf es wagen, uͤber den Gehalt
deſſelben zu entſcheiden. Jeder hat die Richtigkeit
deſſelben lediglich vor ſeinem Gewiſſen und vor
Gott zu erproben.
Ob dieſes Erproben unſeren heimgegangenen
Bruͤdern leicht oder ſchwer gefallen ſeyn duͤrfte;
dieß, trauernde Bruͤder, laſſet uns zu unſerer ei-
genen Belehrung aus dem Gehalt ihrer characte-
riſtiſchen Aeußerungen und aus dem Schein ihrer
Thaten folgern.
Liebreiche Schonung und Nachſicht gegen alle
Menſchen war der ſtaͤrkſte Characterzug unſeres
verewigten Bruders B. Es war zugleich der herr-
ſchende, denn er ward unter allen Umſtaͤnden und
Verhaͤltniſſen ſichtbar. Nie wagte Er es, aus ein-
zelnen Thaten, ſelbſt wenn ihm ſein ſittliches Ge-
fuͤhl Mißbilligung derſelben geboth, uͤber den ſitt-
lichen Werth des Menſchen abzuſprechen. Der
anmaßende, ſtrenge Beurtheiler ſeiner Nebenmen-
ſchen fand an ihm den entſchiedenſten Gegner.
Dieſer ſchoͤne und edle, in ſeine ganze Handlungs-
weiſe einfließende Characterzug konnte nur, ent-
weder in einer mehr als gewoͤhnlichen Geiſtes-
ſchwaͤche und Stumpfſinnigkeit, oder in einer in-
nigern Kenntniß ſeiner ſelbſt, und der daraus
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ſeinen Grund haben. Im erſtern Falle mußte
ſeine Handlungsweiſe in Bezug auf andere Men-
ſchen unbeſtaͤndig, ſchwankend, ſich ſelbſt wider-
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[Fessler, Ignaz Aurelius]: Eleusinien des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin, 1802, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fessler_eleusinien01_1802/199>, abgerufen am 16.02.2025.
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