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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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III. Die Neuzeit.
meinte Maß antiker Classicität, das bei ihr zur Aftergrazie wird.
Es entsteht so der vollendetste Manierismus, dessen Vertreter die
talentvollsten und hochgefeiertsten Künstler sind -- ein Zeichen,
daß die ganze Zeit grade so dachte und fühlte wie sie --, Künst-
ler wie Johann von Aachen, Bartholomäus Spranger, Hems-
kerk und vor allen Heinrich Goltzius, der Meister im Kupferstich.
Namentlich der letzte, welcher mit seiner populären Kunst weit
großartigere Erfolge errang, giebt die schlagendsten Beispiele.
So ist es ihm, dem Meister der Technik, völlig unmöglich Kin-
der zu zeichnen; so oft er sie darstellt, sind es häßliche, gezierte
und affectirte, altkluge Geschöpfe, ohne alle Spur von Unschuld
und Naivetät; Adam und Eva im Paradiese ist nur ein entklei-
detes vornehmes Paar vom Hofe König Philipps II., vom Schei-
tel bis zur Zehe, im Ausdruck und jeder Bewegung aufs strengste
nach spanischer Etiquette geschult; Apollo, der mit Pfeil und
Bogen auf Wolken daherschreitet, ist "jeder Zoll ein Spanier."
Wenn Goltzius und seine Schule das Schmachtende, Sehnsüch-
tige oder die Unschuld ausdrücken wollen, so gehen die Augen
über; nie sind sie klar und deutlich gezeichnet und die Augen-
sterne sind fast unsichtbar: sie sind nach oben in die Höhlung ge-
zogen mit "himmelndem" Blick. Diese Unschuld des Blickes
hat bei ihm das ganze Paradies -- ein Lieblingsgegenstand --,
Adam und Eva nicht mehr wie Schaf und Löwe, Elephant und
Ochs, der Hase, das Kameel, Gans, Adler und natürlich auch
die Schlange, die Verführerin. Statt mit der Wahl der Gegen-
stände gleich ihren Vorgängern hineinzugreifen ins volle Men-
schenleben, quälen sie sich herum mit allen möglichen und un-
möglichen, verständlichen und unverständlichen Allegorien, bei
denen die erklärende Schrift zur Nothwendigkeit wird. Andrer-
seits ist ihnen im Gefühl ihres eigenen Mangels die einfache
Natur noch nicht natürlich genug. Nichts ist z. B. bezeichnender
als die Darstellung der Verkündigung, wie sie Johann Sadeler
nach Sustris gestochen hat: während Maria bei den Alten vor-
bereitet im Gebet und knieend die hohe Botschaft empfängt, sitzt
sie hier im Zimmer und näht. -- Einzelne Künstler, die sich

III. Die Neuzeit.
meinte Maß antiker Claſſicität, das bei ihr zur Aftergrazie wird.
Es entſteht ſo der vollendetſte Manierismus, deſſen Vertreter die
talentvollſten und hochgefeiertſten Künſtler ſind — ein Zeichen,
daß die ganze Zeit grade ſo dachte und fühlte wie ſie —, Künſt-
ler wie Johann von Aachen, Bartholomäus Spranger, Hems-
kerk und vor allen Heinrich Goltzius, der Meiſter im Kupferſtich.
Namentlich der letzte, welcher mit ſeiner populären Kunſt weit
großartigere Erfolge errang, giebt die ſchlagendſten Beiſpiele.
So iſt es ihm, dem Meiſter der Technik, völlig unmöglich Kin-
der zu zeichnen; ſo oft er ſie darſtellt, ſind es häßliche, gezierte
und affectirte, altkluge Geſchöpfe, ohne alle Spur von Unſchuld
und Naivetät; Adam und Eva im Paradieſe iſt nur ein entklei-
detes vornehmes Paar vom Hofe König Philipps II., vom Schei-
tel bis zur Zehe, im Ausdruck und jeder Bewegung aufs ſtrengſte
nach ſpaniſcher Etiquette geſchult; Apollo, der mit Pfeil und
Bogen auf Wolken daherſchreitet, iſt „jeder Zoll ein Spanier.“
Wenn Goltzius und ſeine Schule das Schmachtende, Sehnſüch-
tige oder die Unſchuld ausdrücken wollen, ſo gehen die Augen
über; nie ſind ſie klar und deutlich gezeichnet und die Augen-
ſterne ſind faſt unſichtbar: ſie ſind nach oben in die Höhlung ge-
zogen mit „himmelndem“ Blick. Dieſe Unſchuld des Blickes
hat bei ihm das ganze Paradies — ein Lieblingsgegenſtand —,
Adam und Eva nicht mehr wie Schaf und Löwe, Elephant und
Ochs, der Haſe, das Kameel, Gans, Adler und natürlich auch
die Schlange, die Verführerin. Statt mit der Wahl der Gegen-
ſtände gleich ihren Vorgängern hineinzugreifen ins volle Men-
ſchenleben, quälen ſie ſich herum mit allen möglichen und un-
möglichen, verſtändlichen und unverſtändlichen Allegorien, bei
denen die erklärende Schrift zur Nothwendigkeit wird. Andrer-
ſeits iſt ihnen im Gefühl ihres eigenen Mangels die einfache
Natur noch nicht natürlich genug. Nichts iſt z. B. bezeichnender
als die Darſtellung der Verkündigung, wie ſie Johann Sadeler
nach Suſtris geſtochen hat: während Maria bei den Alten vor-
bereitet im Gebet und knieend die hohe Botſchaft empfängt, ſitzt
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[84/0096] III. Die Neuzeit. meinte Maß antiker Claſſicität, das bei ihr zur Aftergrazie wird. Es entſteht ſo der vollendetſte Manierismus, deſſen Vertreter die talentvollſten und hochgefeiertſten Künſtler ſind — ein Zeichen, daß die ganze Zeit grade ſo dachte und fühlte wie ſie —, Künſt- ler wie Johann von Aachen, Bartholomäus Spranger, Hems- kerk und vor allen Heinrich Goltzius, der Meiſter im Kupferſtich. Namentlich der letzte, welcher mit ſeiner populären Kunſt weit großartigere Erfolge errang, giebt die ſchlagendſten Beiſpiele. So iſt es ihm, dem Meiſter der Technik, völlig unmöglich Kin- der zu zeichnen; ſo oft er ſie darſtellt, ſind es häßliche, gezierte und affectirte, altkluge Geſchöpfe, ohne alle Spur von Unſchuld und Naivetät; Adam und Eva im Paradieſe iſt nur ein entklei- detes vornehmes Paar vom Hofe König Philipps II., vom Schei- tel bis zur Zehe, im Ausdruck und jeder Bewegung aufs ſtrengſte nach ſpaniſcher Etiquette geſchult; Apollo, der mit Pfeil und Bogen auf Wolken daherſchreitet, iſt „jeder Zoll ein Spanier.“ Wenn Goltzius und ſeine Schule das Schmachtende, Sehnſüch- tige oder die Unſchuld ausdrücken wollen, ſo gehen die Augen über; nie ſind ſie klar und deutlich gezeichnet und die Augen- ſterne ſind faſt unſichtbar: ſie ſind nach oben in die Höhlung ge- zogen mit „himmelndem“ Blick. Dieſe Unſchuld des Blickes hat bei ihm das ganze Paradies — ein Lieblingsgegenſtand —, Adam und Eva nicht mehr wie Schaf und Löwe, Elephant und Ochs, der Haſe, das Kameel, Gans, Adler und natürlich auch die Schlange, die Verführerin. Statt mit der Wahl der Gegen- ſtände gleich ihren Vorgängern hineinzugreifen ins volle Men- ſchenleben, quälen ſie ſich herum mit allen möglichen und un- möglichen, verſtändlichen und unverſtändlichen Allegorien, bei denen die erklärende Schrift zur Nothwendigkeit wird. Andrer- ſeits iſt ihnen im Gefühl ihres eigenen Mangels die einfache Natur noch nicht natürlich genug. Nichts iſt z. B. bezeichnender als die Darſtellung der Verkündigung, wie ſie Johann Sadeler nach Suſtris geſtochen hat: während Maria bei den Alten vor- bereitet im Gebet und knieend die hohe Botſchaft empfängt, ſitzt ſie hier im Zimmer und näht. — Einzelne Künſtler, die ſich

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/96>, abgerufen am 27.04.2024.