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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Matronen des Bürgerthums zuweilen diesen Eindruck machen.
Es war etwas anderes mit der Männerwelt, die nur zum Be-
wußtsein ihrer selbst zu kommen brauchte, um diese für sie wei-
bische Mode abzulegen; bei ihnen ging es rascher. Die Frauen
brachten es für die ersten Jahrzehnte nur zu einem bescheidneren
Maße, das ihnen bei der übrigen freien, aber nicht leichtfertigen
Kleidung wohl anstand. So können wir es schon um das Jahr
1510 und ebenso noch vielfach in den dreißiger Jahren erblicken.
Dann aber, da der erste Rausch der allgemeinen Erregung ver-
flog und die Reaction im eigenen Bewußtsein sich einstellte, als
statt der Gewissensfreiheit die Sündhaftigkeit des Menschen den
Grundgedanken für das religiöse Leben in Kirche und Haus ab-
gab, da wurde die Schönheit zur Sünde, zur Schuld, und auf's
ängstlichste suchte man die Reize zu verhüllen, welche die Natur
etwa für die irdische Lebensbahn mitgegeben hatte. Bis unter
Kinn und Ohr und möglichst noch darüber hinaus und hoch hin-
auf in den Nacken wurde alles steif und geschlossen verdeckt.

Die Arme fühlten zuerst diesen Umschwung der Zeit. Wir
haben gesehen, wie sich an ihnen um die Mitte des funfzehnten
Jahrhunderts zum ersten Male in christlicher Zeit eine Enthül-
lung bis gegen den Ellbogen eingestellt hatte: ihre Zeit schien
noch nicht gekommen, und daher sehen wir diese Sitte bereits
um das Jahr 1510 so allgemein verschwunden, daß vereinzelte
spätere Fälle dagegen nicht in Betracht kommen. Im Gegen-
theil, da zugleich der Längenaufschnitt des Aermels sich wieder
schließt, wächst dieser nicht bloß zum Handgelenk, sondern erhält
hier einen Vorstoß, der sich über die Hand bis zu den Fingern
legt und somit als Ersatz des Handschuhs dienen, aber auch zu-
rückgeschlagen werden konnte. Doch verschwindet er bald wieder,
obwohl er sich anfangs ziemlich allgemein zeigt. Bis gegen das
Jahr 1520 hat das Kleid oben einen Ausschnitt von mäßiger
Tiefe, welcher sich nur leise im Rücken senkt, die Schultern größ-
tentheils enthüllt, vorn aber sich unter die Brüste oder selbst bis
zum Gürtel in sehr verschiedenem Schnitte herabsenkt und stets
von mehr oder weniger kostbarem Besatze begleitet ist. Zuweilen

1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Matronen des Bürgerthums zuweilen dieſen Eindruck machen.
Es war etwas anderes mit der Männerwelt, die nur zum Be-
wußtſein ihrer ſelbſt zu kommen brauchte, um dieſe für ſie wei-
biſche Mode abzulegen; bei ihnen ging es raſcher. Die Frauen
brachten es für die erſten Jahrzehnte nur zu einem beſcheidneren
Maße, das ihnen bei der übrigen freien, aber nicht leichtfertigen
Kleidung wohl anſtand. So können wir es ſchon um das Jahr
1510 und ebenſo noch vielfach in den dreißiger Jahren erblicken.
Dann aber, da der erſte Rauſch der allgemeinen Erregung ver-
flog und die Reaction im eigenen Bewußtſein ſich einſtellte, als
ſtatt der Gewiſſensfreiheit die Sündhaftigkeit des Menſchen den
Grundgedanken für das religiöſe Leben in Kirche und Haus ab-
gab, da wurde die Schönheit zur Sünde, zur Schuld, und auf’s
ängſtlichſte ſuchte man die Reize zu verhüllen, welche die Natur
etwa für die irdiſche Lebensbahn mitgegeben hatte. Bis unter
Kinn und Ohr und möglichſt noch darüber hinaus und hoch hin-
auf in den Nacken wurde alles ſteif und geſchloſſen verdeckt.

Die Arme fühlten zuerſt dieſen Umſchwung der Zeit. Wir
haben geſehen, wie ſich an ihnen um die Mitte des funfzehnten
Jahrhunderts zum erſten Male in chriſtlicher Zeit eine Enthül-
lung bis gegen den Ellbogen eingeſtellt hatte: ihre Zeit ſchien
noch nicht gekommen, und daher ſehen wir dieſe Sitte bereits
um das Jahr 1510 ſo allgemein verſchwunden, daß vereinzelte
ſpätere Fälle dagegen nicht in Betracht kommen. Im Gegen-
theil, da zugleich der Längenaufſchnitt des Aermels ſich wieder
ſchließt, wächſt dieſer nicht bloß zum Handgelenk, ſondern erhält
hier einen Vorſtoß, der ſich über die Hand bis zu den Fingern
legt und ſomit als Erſatz des Handſchuhs dienen, aber auch zu-
rückgeſchlagen werden konnte. Doch verſchwindet er bald wieder,
obwohl er ſich anfangs ziemlich allgemein zeigt. Bis gegen das
Jahr 1520 hat das Kleid oben einen Ausſchnitt von mäßiger
Tiefe, welcher ſich nur leiſe im Rücken ſenkt, die Schultern größ-
tentheils enthüllt, vorn aber ſich unter die Brüſte oder ſelbſt bis
zum Gürtel in ſehr verſchiedenem Schnitte herabſenkt und ſtets
von mehr oder weniger koſtbarem Beſatze begleitet iſt. Zuweilen

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[71/0083] 1. Die Reformation an Haupt und Gliedern. Matronen des Bürgerthums zuweilen dieſen Eindruck machen. Es war etwas anderes mit der Männerwelt, die nur zum Be- wußtſein ihrer ſelbſt zu kommen brauchte, um dieſe für ſie wei- biſche Mode abzulegen; bei ihnen ging es raſcher. Die Frauen brachten es für die erſten Jahrzehnte nur zu einem beſcheidneren Maße, das ihnen bei der übrigen freien, aber nicht leichtfertigen Kleidung wohl anſtand. So können wir es ſchon um das Jahr 1510 und ebenſo noch vielfach in den dreißiger Jahren erblicken. Dann aber, da der erſte Rauſch der allgemeinen Erregung ver- flog und die Reaction im eigenen Bewußtſein ſich einſtellte, als ſtatt der Gewiſſensfreiheit die Sündhaftigkeit des Menſchen den Grundgedanken für das religiöſe Leben in Kirche und Haus ab- gab, da wurde die Schönheit zur Sünde, zur Schuld, und auf’s ängſtlichſte ſuchte man die Reize zu verhüllen, welche die Natur etwa für die irdiſche Lebensbahn mitgegeben hatte. Bis unter Kinn und Ohr und möglichſt noch darüber hinaus und hoch hin- auf in den Nacken wurde alles ſteif und geſchloſſen verdeckt. Die Arme fühlten zuerſt dieſen Umſchwung der Zeit. Wir haben geſehen, wie ſich an ihnen um die Mitte des funfzehnten Jahrhunderts zum erſten Male in chriſtlicher Zeit eine Enthül- lung bis gegen den Ellbogen eingeſtellt hatte: ihre Zeit ſchien noch nicht gekommen, und daher ſehen wir dieſe Sitte bereits um das Jahr 1510 ſo allgemein verſchwunden, daß vereinzelte ſpätere Fälle dagegen nicht in Betracht kommen. Im Gegen- theil, da zugleich der Längenaufſchnitt des Aermels ſich wieder ſchließt, wächſt dieſer nicht bloß zum Handgelenk, ſondern erhält hier einen Vorſtoß, der ſich über die Hand bis zu den Fingern legt und ſomit als Erſatz des Handſchuhs dienen, aber auch zu- rückgeſchlagen werden konnte. Doch verſchwindet er bald wieder, obwohl er ſich anfangs ziemlich allgemein zeigt. Bis gegen das Jahr 1520 hat das Kleid oben einen Ausſchnitt von mäßiger Tiefe, welcher ſich nur leiſe im Rücken ſenkt, die Schultern größ- tentheils enthüllt, vorn aber ſich unter die Brüſte oder ſelbſt bis zum Gürtel in ſehr verſchiedenem Schnitte herabſenkt und ſtets von mehr oder weniger koſtbarem Beſatze begleitet iſt. Zuweilen

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/83>, abgerufen am 27.04.2024.