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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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III. Die Neuzeit.
der Brust griechischen Schnitt anzunehmen, und die Taille steigt
unter die Brüste. In diesem Jahr spricht man auch in Deutsch-
land schon von der griechischen Chemise, und bald hört man nur
noch von einer Tunica reden. Zu ihrer großen Verwunderung
kamen die eleganten Herren vom alten Datum im Jahr 1796
auf einmal zu dem Bewußtsein, daß die Frauen keine Taille
mehr hätten, und machten großes Geschrei davon. Man ant-
wortete ihnen, wozu denn eine solche nöthig sei? und deducirte
ihnen die Ueberflüssigkeit, ja Unschönheit derselben an der grie-
chischen Statue: was nöthig und wünschenswerth sei, Schön-
heit und Beweglichkeit zugleich, gebe die lange Tunica, "weit
genug um den Gang nicht zu zwängen, für den Winter von
warmem gefütterten Zeuge, von leichtem für den Sommer;
und um sie den Formen des Körpers so sehr als möglich anzu-
schmiegen, umschlingt man sie mit einem Bande, einem Gürtel,
einer Schärpe, dort wo es ihn am mindesten zwängt. Dieser Ort
ist natürlich die Zone unmittelbar über der Magenhöhle."

In dieser Weise hatte die Mode bisher niemals räsonnirt;
sie hatte sich wenig um Vernunft und Aesthetik bekümmert. In
der Hauptsache blieb das auch jetzt. Zwar drang die Tunica mit
ihrer hohen Taille in gewissem Grade bis zur Allgemeingültigkeit
durch, obwohl selbst die geistlichen Herrn mit orthodoxem Eifer
für die lange Taille und die Schnürbrust in die Schranken tra-
ten. Schönheit wie Zweckmäßigkeit wurde jedoch nicht erreicht:
die deutsche Dame so wenig wie die Pariserin vermochte sich mit
Würde in der Griechentracht zu fassen; im besten Falle waren
sie Schauspielerinnen.

Die Haupteigenschaft der antiken Tracht suchte man in der
Nacktheit, und hierin standen auch deutsche Damen nicht hinter
den französischen zurück. Selbst im Winter sollte ein einziges
hemdähnliches, oft dünnes Gewand genügen, sodaß die Gefahr
zu erfrieren zuweilen nahe genug war. Diese Unannehmlichkeit,
Krankheiten, die daraus entstanden, die Ermahnungen der Aerzte
halfen gleich wenig. Im April 1797 schreibt man aus Frank-
furt: "In der That ist jetzt die Nuditätenmode bei manchen un-

III. Die Neuzeit.
der Bruſt griechiſchen Schnitt anzunehmen, und die Taille ſteigt
unter die Brüſte. In dieſem Jahr ſpricht man auch in Deutſch-
land ſchon von der griechiſchen Chemiſe, und bald hört man nur
noch von einer Tunica reden. Zu ihrer großen Verwunderung
kamen die eleganten Herren vom alten Datum im Jahr 1796
auf einmal zu dem Bewußtſein, daß die Frauen keine Taille
mehr hätten, und machten großes Geſchrei davon. Man ant-
wortete ihnen, wozu denn eine ſolche nöthig ſei? und deducirte
ihnen die Ueberflüſſigkeit, ja Unſchönheit derſelben an der grie-
chiſchen Statue: was nöthig und wünſchenswerth ſei, Schön-
heit und Beweglichkeit zugleich, gebe die lange Tunica, „weit
genug um den Gang nicht zu zwängen, für den Winter von
warmem gefütterten Zeuge, von leichtem für den Sommer;
und um ſie den Formen des Körpers ſo ſehr als möglich anzu-
ſchmiegen, umſchlingt man ſie mit einem Bande, einem Gürtel,
einer Schärpe, dort wo es ihn am mindeſten zwängt. Dieſer Ort
iſt natürlich die Zone unmittelbar über der Magenhöhle.“

In dieſer Weiſe hatte die Mode bisher niemals räſonnirt;
ſie hatte ſich wenig um Vernunft und Aeſthetik bekümmert. In
der Hauptſache blieb das auch jetzt. Zwar drang die Tunica mit
ihrer hohen Taille in gewiſſem Grade bis zur Allgemeingültigkeit
durch, obwohl ſelbſt die geiſtlichen Herrn mit orthodoxem Eifer
für die lange Taille und die Schnürbruſt in die Schranken tra-
ten. Schönheit wie Zweckmäßigkeit wurde jedoch nicht erreicht:
die deutſche Dame ſo wenig wie die Pariſerin vermochte ſich mit
Würde in der Griechentracht zu faſſen; im beſten Falle waren
ſie Schauſpielerinnen.

Die Haupteigenſchaft der antiken Tracht ſuchte man in der
Nacktheit, und hierin ſtanden auch deutſche Damen nicht hinter
den franzöſiſchen zurück. Selbſt im Winter ſollte ein einziges
hemdähnliches, oft dünnes Gewand genügen, ſodaß die Gefahr
zu erfrieren zuweilen nahe genug war. Dieſe Unannehmlichkeit,
Krankheiten, die daraus entſtanden, die Ermahnungen der Aerzte
halfen gleich wenig. Im April 1797 ſchreibt man aus Frank-
furt: „In der That iſt jetzt die Nuditätenmode bei manchen un-

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[322/0334] III. Die Neuzeit. der Bruſt griechiſchen Schnitt anzunehmen, und die Taille ſteigt unter die Brüſte. In dieſem Jahr ſpricht man auch in Deutſch- land ſchon von der griechiſchen Chemiſe, und bald hört man nur noch von einer Tunica reden. Zu ihrer großen Verwunderung kamen die eleganten Herren vom alten Datum im Jahr 1796 auf einmal zu dem Bewußtſein, daß die Frauen keine Taille mehr hätten, und machten großes Geſchrei davon. Man ant- wortete ihnen, wozu denn eine ſolche nöthig ſei? und deducirte ihnen die Ueberflüſſigkeit, ja Unſchönheit derſelben an der grie- chiſchen Statue: was nöthig und wünſchenswerth ſei, Schön- heit und Beweglichkeit zugleich, gebe die lange Tunica, „weit genug um den Gang nicht zu zwängen, für den Winter von warmem gefütterten Zeuge, von leichtem für den Sommer; und um ſie den Formen des Körpers ſo ſehr als möglich anzu- ſchmiegen, umſchlingt man ſie mit einem Bande, einem Gürtel, einer Schärpe, dort wo es ihn am mindeſten zwängt. Dieſer Ort iſt natürlich die Zone unmittelbar über der Magenhöhle.“ In dieſer Weiſe hatte die Mode bisher niemals räſonnirt; ſie hatte ſich wenig um Vernunft und Aeſthetik bekümmert. In der Hauptſache blieb das auch jetzt. Zwar drang die Tunica mit ihrer hohen Taille in gewiſſem Grade bis zur Allgemeingültigkeit durch, obwohl ſelbſt die geiſtlichen Herrn mit orthodoxem Eifer für die lange Taille und die Schnürbruſt in die Schranken tra- ten. Schönheit wie Zweckmäßigkeit wurde jedoch nicht erreicht: die deutſche Dame ſo wenig wie die Pariſerin vermochte ſich mit Würde in der Griechentracht zu faſſen; im beſten Falle waren ſie Schauſpielerinnen. Die Haupteigenſchaft der antiken Tracht ſuchte man in der Nacktheit, und hierin ſtanden auch deutſche Damen nicht hinter den franzöſiſchen zurück. Selbſt im Winter ſollte ein einziges hemdähnliches, oft dünnes Gewand genügen, ſodaß die Gefahr zu erfrieren zuweilen nahe genug war. Dieſe Unannehmlichkeit, Krankheiten, die daraus entſtanden, die Ermahnungen der Aerzte halfen gleich wenig. Im April 1797 ſchreibt man aus Frank- furt: „In der That iſt jetzt die Nuditätenmode bei manchen un-

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/334>, abgerufen am 28.11.2024.