Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Barometer für den Culturzustand eines Volks und begleitet, wie
wir das auch schon gesehen haben, die Wandlungen desselben in
treuer Weise oder kündigt sie wohl gar schon im Voraus an.
Völlig vernachlässigt und verwildert, rein dem natürlichen Wachs-
thum, dem Sturm und Regen und andern Vorfällen des Tages
überlassen, war das Haar zu keiner Zeit und bei keinem Volke,
das einmal den ersten Schritt auf dem Wege der Cultur gemacht
hat. Ein größerer oder geringerer Mangel an Pflege und Hal-
tung, ein natürlicher, freier, aber in gefälligem Maß gehaltener
Wuchs, ein Zuviel von Pflege, eine künstliche oder verkünstelte
und widernatürliche Anordnung, sie werden uns allemal genau
den Stand angeben, welchen ein Volk in seiner Entwicklung ein-
genommen hat, ob es der Höhe zustrebt, ob es sie erreicht hat,
oder durch Luxus, Verweichlichung, Entartung seinem Unter-
gange entgegengeht. Davon geben uns frühere Völker, Assyrier
und Aegypter, eben so gut Beispiele wie Griechen und Römer.
Ausnahmen von besonderer Eitelkeit oder absichtsvoller Opposi-
tion wie in der römischen Kaiserzeit der bärtige stoische Philosoph
im vornehmen Hause unter den mit Bimstein geglätteten Ge-
sichtern und den kunstvoll coiffirten Damenköpfen bestätigen nur
diese Regel.

Seit dem Beginn der neueren Geschichte freilich hat sich
das öffentliche und innere Leben der Völker zu reich gestaltet, als
daß wir nur diesen einfachen Prozeß des Werdens, Blühens und
Vergehens zu beobachten hätten; die bewegenden Ideen sind
mannigfacher, die Unterschiede feiner, die Perioden kürzer ge-
worden, und der raschere Wechsel gleicht mehr dem Auf- und
Absteigen der Wellen auf der Wasserfläche als dem Hinunter-
stürzen in die Tiefe ohne Wiederkehr. Nichtsdestoweniger ist die
Haartracht ihr treuer Begleiter in beständiger Parallele; es ist
keine Wandlung der neueren Cultur, kein Umschwung in den
Ideen, der sich nicht sofort oder schon im Voraus an ihr an-
kündigt.

Wir haben gesehen wie noch am Ende des funfzehnten
Jahrhunderts in der weibisch entarteten Zeit, da die Modelaunen

2*

1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Barometer für den Culturzuſtand eines Volks und begleitet, wie
wir das auch ſchon geſehen haben, die Wandlungen deſſelben in
treuer Weiſe oder kündigt ſie wohl gar ſchon im Voraus an.
Völlig vernachläſſigt und verwildert, rein dem natürlichen Wachs-
thum, dem Sturm und Regen und andern Vorfällen des Tages
überlaſſen, war das Haar zu keiner Zeit und bei keinem Volke,
das einmal den erſten Schritt auf dem Wege der Cultur gemacht
hat. Ein größerer oder geringerer Mangel an Pflege und Hal-
tung, ein natürlicher, freier, aber in gefälligem Maß gehaltener
Wuchs, ein Zuviel von Pflege, eine künſtliche oder verkünſtelte
und widernatürliche Anordnung, ſie werden uns allemal genau
den Stand angeben, welchen ein Volk in ſeiner Entwicklung ein-
genommen hat, ob es der Höhe zuſtrebt, ob es ſie erreicht hat,
oder durch Luxus, Verweichlichung, Entartung ſeinem Unter-
gange entgegengeht. Davon geben uns frühere Völker, Aſſyrier
und Aegypter, eben ſo gut Beiſpiele wie Griechen und Römer.
Ausnahmen von beſonderer Eitelkeit oder abſichtsvoller Oppoſi-
tion wie in der römiſchen Kaiſerzeit der bärtige ſtoiſche Philoſoph
im vornehmen Hauſe unter den mit Bimſtein geglätteten Ge-
ſichtern und den kunſtvoll coiffirten Damenköpfen beſtätigen nur
dieſe Regel.

Seit dem Beginn der neueren Geſchichte freilich hat ſich
das öffentliche und innere Leben der Völker zu reich geſtaltet, als
daß wir nur dieſen einfachen Prozeß des Werdens, Blühens und
Vergehens zu beobachten hätten; die bewegenden Ideen ſind
mannigfacher, die Unterſchiede feiner, die Perioden kürzer ge-
worden, und der raſchere Wechſel gleicht mehr dem Auf- und
Abſteigen der Wellen auf der Waſſerfläche als dem Hinunter-
ſtürzen in die Tiefe ohne Wiederkehr. Nichtsdeſtoweniger iſt die
Haartracht ihr treuer Begleiter in beſtändiger Parallele; es iſt
keine Wandlung der neueren Cultur, kein Umſchwung in den
Ideen, der ſich nicht ſofort oder ſchon im Voraus an ihr an-
kündigt.

Wir haben geſehen wie noch am Ende des funfzehnten
Jahrhunderts in der weibiſch entarteten Zeit, da die Modelaunen

2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0031" n="19"/><fw place="top" type="header">1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.</fw><lb/>
Barometer für den Culturzu&#x017F;tand eines Volks und begleitet, wie<lb/>
wir das auch &#x017F;chon ge&#x017F;ehen haben, die Wandlungen de&#x017F;&#x017F;elben in<lb/>
treuer Wei&#x017F;e oder kündigt &#x017F;ie wohl gar &#x017F;chon im Voraus an.<lb/>
Völlig vernachlä&#x017F;&#x017F;igt und verwildert, rein dem natürlichen Wachs-<lb/>
thum, dem Sturm und Regen und andern Vorfällen des Tages<lb/>
überla&#x017F;&#x017F;en, war das Haar zu keiner Zeit und bei keinem Volke,<lb/>
das einmal den er&#x017F;ten Schritt auf dem Wege der Cultur gemacht<lb/>
hat. Ein größerer oder geringerer Mangel an Pflege und Hal-<lb/>
tung, ein natürlicher, freier, aber in gefälligem Maß gehaltener<lb/>
Wuchs, ein Zuviel von Pflege, eine kün&#x017F;tliche oder verkün&#x017F;telte<lb/>
und widernatürliche Anordnung, &#x017F;ie werden uns allemal genau<lb/>
den Stand angeben, welchen ein Volk in &#x017F;einer Entwicklung ein-<lb/>
genommen hat, ob es der Höhe zu&#x017F;trebt, ob es &#x017F;ie erreicht hat,<lb/>
oder durch Luxus, Verweichlichung, Entartung &#x017F;einem Unter-<lb/>
gange entgegengeht. Davon geben uns frühere Völker, A&#x017F;&#x017F;yrier<lb/>
und Aegypter, eben &#x017F;o gut Bei&#x017F;piele wie Griechen und Römer.<lb/>
Ausnahmen von be&#x017F;onderer Eitelkeit oder ab&#x017F;ichtsvoller Oppo&#x017F;i-<lb/>
tion wie in der römi&#x017F;chen Kai&#x017F;erzeit der bärtige &#x017F;toi&#x017F;che Philo&#x017F;oph<lb/>
im vornehmen Hau&#x017F;e unter den mit Bim&#x017F;tein geglätteten Ge-<lb/>
&#x017F;ichtern und den kun&#x017F;tvoll coiffirten Damenköpfen be&#x017F;tätigen nur<lb/>
die&#x017F;e Regel.</p><lb/>
          <p>Seit dem Beginn der neueren Ge&#x017F;chichte freilich hat &#x017F;ich<lb/>
das öffentliche und innere Leben der Völker zu reich ge&#x017F;taltet, als<lb/>
daß wir nur die&#x017F;en einfachen Prozeß des Werdens, Blühens und<lb/>
Vergehens zu beobachten hätten; die bewegenden Ideen &#x017F;ind<lb/>
mannigfacher, die Unter&#x017F;chiede feiner, die Perioden kürzer ge-<lb/>
worden, und der ra&#x017F;chere Wech&#x017F;el gleicht mehr dem Auf- und<lb/>
Ab&#x017F;teigen der Wellen auf der Wa&#x017F;&#x017F;erfläche als dem Hinunter-<lb/>
&#x017F;türzen in die Tiefe ohne Wiederkehr. Nichtsde&#x017F;toweniger i&#x017F;t die<lb/>
Haartracht ihr treuer Begleiter in be&#x017F;tändiger Parallele; es i&#x017F;t<lb/>
keine Wandlung der neueren Cultur, kein Um&#x017F;chwung in den<lb/>
Ideen, der &#x017F;ich nicht &#x017F;ofort oder &#x017F;chon im Voraus an ihr an-<lb/>
kündigt.</p><lb/>
          <p>Wir haben ge&#x017F;ehen wie noch am Ende des funfzehnten<lb/>
Jahrhunderts in der weibi&#x017F;ch entarteten Zeit, da die Modelaunen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">2*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0031] 1. Die Reformation an Haupt und Gliedern. Barometer für den Culturzuſtand eines Volks und begleitet, wie wir das auch ſchon geſehen haben, die Wandlungen deſſelben in treuer Weiſe oder kündigt ſie wohl gar ſchon im Voraus an. Völlig vernachläſſigt und verwildert, rein dem natürlichen Wachs- thum, dem Sturm und Regen und andern Vorfällen des Tages überlaſſen, war das Haar zu keiner Zeit und bei keinem Volke, das einmal den erſten Schritt auf dem Wege der Cultur gemacht hat. Ein größerer oder geringerer Mangel an Pflege und Hal- tung, ein natürlicher, freier, aber in gefälligem Maß gehaltener Wuchs, ein Zuviel von Pflege, eine künſtliche oder verkünſtelte und widernatürliche Anordnung, ſie werden uns allemal genau den Stand angeben, welchen ein Volk in ſeiner Entwicklung ein- genommen hat, ob es der Höhe zuſtrebt, ob es ſie erreicht hat, oder durch Luxus, Verweichlichung, Entartung ſeinem Unter- gange entgegengeht. Davon geben uns frühere Völker, Aſſyrier und Aegypter, eben ſo gut Beiſpiele wie Griechen und Römer. Ausnahmen von beſonderer Eitelkeit oder abſichtsvoller Oppoſi- tion wie in der römiſchen Kaiſerzeit der bärtige ſtoiſche Philoſoph im vornehmen Hauſe unter den mit Bimſtein geglätteten Ge- ſichtern und den kunſtvoll coiffirten Damenköpfen beſtätigen nur dieſe Regel. Seit dem Beginn der neueren Geſchichte freilich hat ſich das öffentliche und innere Leben der Völker zu reich geſtaltet, als daß wir nur dieſen einfachen Prozeß des Werdens, Blühens und Vergehens zu beobachten hätten; die bewegenden Ideen ſind mannigfacher, die Unterſchiede feiner, die Perioden kürzer ge- worden, und der raſchere Wechſel gleicht mehr dem Auf- und Abſteigen der Wellen auf der Waſſerfläche als dem Hinunter- ſtürzen in die Tiefe ohne Wiederkehr. Nichtsdeſtoweniger iſt die Haartracht ihr treuer Begleiter in beſtändiger Parallele; es iſt keine Wandlung der neueren Cultur, kein Umſchwung in den Ideen, der ſich nicht ſofort oder ſchon im Voraus an ihr an- kündigt. Wir haben geſehen wie noch am Ende des funfzehnten Jahrhunderts in der weibiſch entarteten Zeit, da die Modelaunen 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/31
Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/31>, abgerufen am 28.11.2024.