Zeichners zu Hülfe, während früher seine eigene Erfindungsgabe und Geschicklichkeit ausgereicht hatte.
Ehe die eigentliche deutsche Kunst, die Malerei und Bild- hauerei, dem directen Einfluß der Italiener erlag, sollte sie grade noch in Folge des großen Umschwungs ihre höchste Blüthezeit feiern, wenn dieselbe auch kaum der Dauer eines Menschenalters sich rühmen konnte. Es waren die letzten zwanzig bis dreißig Jahre der künstlerischen Wirksamkeit Dürers; seine Schüler arbeiteten eine kurze Zeit in seinem Geiste fort und erlagen dann dem alles überfluthenden Strom der Renaissance, die schon in einzelnen Werken des Meisters, wie z. B. in der Triumphpforte und noch mehr im Triumphwagen in unverkennbaren Zügen her- vortritt. Der Realismus, der am Ausgang des vierzehnten Jahr- hunderts in die Kunst eindrang und namentlich in den Nieder- landen so großartige Erfolge herbeigeführt hatte, konnte in der Verwilderung des funfzehnten Jahrhunderts die Kunst freilich nicht auf der Höhe der van Eyck's erhalten; aber vor eigentlicher Manierirtheit bewahrte sie die Tiefe und Naivetät der Empfin- dung, unschätzbare Eigenschaften, die ein Jahrhundert später völlig verloren gingen. Jedoch schlug bei der Verschrobenheit der Zeit das Streben nach individueller Charakterisirung nur zu oft ins Extrem, ins Eckige, Verzerrte und Häßliche um, sodaß durch die Uebertreibung wieder Unnatur in Form, Bewegung und Aus- druck entstand, wie das Wohlgemuth und seine Genossen von Kunst und Handwerk deutlich lehren. Oft streift dieser Realis- mus, der wohl das Leben selbst, aber wenig den dargestellten Gegenstand berücksichtigt, wieder hart an die Manier.
Auf die freie Höhe der Vollendung, zu ächter Naturwahr- heit wirklichen und charakteristischen Lebens führte Dürer die Kunst. Ohne im geringsten an Innerlichkeit, an geistigem Ge- halte aufzugeben, riß er sie heraus aus der Unbeholfenheit, welche noch die deutschen Meister des funfzehnten Jahrhunderts gelähmt hatte und befreite sie von aller Uebertreibung, Manier und Ver- schrobenheit. Er strebte nicht nach idealen Formen, sondern nahm seine Gestalten wie er sie in der Wirklichkeit um sich fand, jedoch
1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Zeichners zu Hülfe, während früher ſeine eigene Erfindungsgabe und Geſchicklichkeit ausgereicht hatte.
Ehe die eigentliche deutſche Kunſt, die Malerei und Bild- hauerei, dem directen Einfluß der Italiener erlag, ſollte ſie grade noch in Folge des großen Umſchwungs ihre höchſte Blüthezeit feiern, wenn dieſelbe auch kaum der Dauer eines Menſchenalters ſich rühmen konnte. Es waren die letzten zwanzig bis dreißig Jahre der künſtleriſchen Wirkſamkeit Dürers; ſeine Schüler arbeiteten eine kurze Zeit in ſeinem Geiſte fort und erlagen dann dem alles überfluthenden Strom der Renaiſſance, die ſchon in einzelnen Werken des Meiſters, wie z. B. in der Triumphpforte und noch mehr im Triumphwagen in unverkennbaren Zügen her- vortritt. Der Realismus, der am Ausgang des vierzehnten Jahr- hunderts in die Kunſt eindrang und namentlich in den Nieder- landen ſo großartige Erfolge herbeigeführt hatte, konnte in der Verwilderung des funfzehnten Jahrhunderts die Kunſt freilich nicht auf der Höhe der van Eyck’s erhalten; aber vor eigentlicher Manierirtheit bewahrte ſie die Tiefe und Naivetät der Empfin- dung, unſchätzbare Eigenſchaften, die ein Jahrhundert ſpäter völlig verloren gingen. Jedoch ſchlug bei der Verſchrobenheit der Zeit das Streben nach individueller Charakteriſirung nur zu oft ins Extrem, ins Eckige, Verzerrte und Häßliche um, ſodaß durch die Uebertreibung wieder Unnatur in Form, Bewegung und Aus- druck entſtand, wie das Wohlgemuth und ſeine Genoſſen von Kunſt und Handwerk deutlich lehren. Oft ſtreift dieſer Realis- mus, der wohl das Leben ſelbſt, aber wenig den dargeſtellten Gegenſtand berückſichtigt, wieder hart an die Manier.
Auf die freie Höhe der Vollendung, zu ächter Naturwahr- heit wirklichen und charakteriſtiſchen Lebens führte Dürer die Kunſt. Ohne im geringſten an Innerlichkeit, an geiſtigem Ge- halte aufzugeben, riß er ſie heraus aus der Unbeholfenheit, welche noch die deutſchen Meiſter des funfzehnten Jahrhunderts gelähmt hatte und befreite ſie von aller Uebertreibung, Manier und Ver- ſchrobenheit. Er ſtrebte nicht nach idealen Formen, ſondern nahm ſeine Geſtalten wie er ſie in der Wirklichkeit um ſich fand, jedoch
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1. Die Reformation an Haupt und Gliedern.
Zeichners zu Hülfe, während früher ſeine eigene Erfindungsgabe
und Geſchicklichkeit ausgereicht hatte.
Ehe die eigentliche deutſche Kunſt, die Malerei und Bild-
hauerei, dem directen Einfluß der Italiener erlag, ſollte ſie grade
noch in Folge des großen Umſchwungs ihre höchſte Blüthezeit
feiern, wenn dieſelbe auch kaum der Dauer eines Menſchenalters
ſich rühmen konnte. Es waren die letzten zwanzig bis dreißig
Jahre der künſtleriſchen Wirkſamkeit Dürers; ſeine Schüler
arbeiteten eine kurze Zeit in ſeinem Geiſte fort und erlagen dann
dem alles überfluthenden Strom der Renaiſſance, die ſchon in
einzelnen Werken des Meiſters, wie z. B. in der Triumphpforte
und noch mehr im Triumphwagen in unverkennbaren Zügen her-
vortritt. Der Realismus, der am Ausgang des vierzehnten Jahr-
hunderts in die Kunſt eindrang und namentlich in den Nieder-
landen ſo großartige Erfolge herbeigeführt hatte, konnte in der
Verwilderung des funfzehnten Jahrhunderts die Kunſt freilich
nicht auf der Höhe der van Eyck’s erhalten; aber vor eigentlicher
Manierirtheit bewahrte ſie die Tiefe und Naivetät der Empfin-
dung, unſchätzbare Eigenſchaften, die ein Jahrhundert ſpäter
völlig verloren gingen. Jedoch ſchlug bei der Verſchrobenheit der
Zeit das Streben nach individueller Charakteriſirung nur zu oft
ins Extrem, ins Eckige, Verzerrte und Häßliche um, ſodaß durch
die Uebertreibung wieder Unnatur in Form, Bewegung und Aus-
druck entſtand, wie das Wohlgemuth und ſeine Genoſſen von
Kunſt und Handwerk deutlich lehren. Oft ſtreift dieſer Realis-
mus, der wohl das Leben ſelbſt, aber wenig den dargeſtellten
Gegenſtand berückſichtigt, wieder hart an die Manier.
Auf die freie Höhe der Vollendung, zu ächter Naturwahr-
heit wirklichen und charakteriſtiſchen Lebens führte Dürer die
Kunſt. Ohne im geringſten an Innerlichkeit, an geiſtigem Ge-
halte aufzugeben, riß er ſie heraus aus der Unbeholfenheit, welche
noch die deutſchen Meiſter des funfzehnten Jahrhunderts gelähmt
hatte und befreite ſie von aller Uebertreibung, Manier und Ver-
ſchrobenheit. Er ſtrebte nicht nach idealen Formen, ſondern nahm
ſeine Geſtalten wie er ſie in der Wirklichkeit um ſich fand, jedoch
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/21>, abgerufen am 16.02.2025.
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