3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs.
der die Stiefeln zur Mode gebracht, eben ein deutscher war. Freilich waren sie beim Pariser Herrn von etwas zierlicherer Form, aber, ebenfalls weit und faltig, hatten sie die umgekrämp- ten abstehenden Stulpen, die nur der Reiter bis oben hinauf zog. Bis zu Ende des Kriegs gewann der Stiefel immer mehr Boden, ohne freilich den Schuh ganz verdrängen zu können, der mit dem Frieden sofort wieder die Herrschaft übernahm.
Bis soweit hatte sich die Kleidung unter dem Einfluß des Naturalismus und des Kriegs entwickelt, ohne daß im Allgemei- nen viel zu tadeln gewesen wäre. Die spanische Steifheit und die zur Eleganz gehörenden Mißformen waren völlig beseitigt und ein freies, malerisches und der Feinheit nicht ermangelndes Costüm an seine Stelle getreten. Allein die haltlose, aus den Fugen gegangene Zeit drängte zur Uebertreibung und Ueberstür- zung, sodaß dem Manierirten und Gespreizten bald wieder das andere Extrem gegenüber trat, das Groteskphantastische, und die Natürlichkeit sich in Unnatur verkehrte, wie dem höfisch abgemes- senen Wesen die ungebundene, zügel- und zuchtlose Ausgelassen- heit des Soldaten folgte.
In dem langen verheerenden Kriege, dessen Art und Weise ohnehin der Menschlichkeit entsagt hatte, verlor die Welt den sittlichen Halt und Gehalt. Es war eine Zeit des raschen Wech- sels und darum auch des raschen Lebens. Niemand konnte dar- auf rechnen, noch morgen sein zu nennen, was er heute besaß; wenn er heute im friedlichen Glücke genoß, wälzte sich morgen die Kriegswoge daher, verschlang ihn oder trieb ihn am Bettel- stabe von Haus und Hof ins Elend hinein. Wer wollte sich Mühe geben, seinen Besitz zu sichern und für Jahre hinaus zu sorgen: ein rascher Genuß des Vorhandenen und wieder Jagen nach neuem Gewinn, das war ein zeitgemäßeres Leben. Das Trachten nach dem Glück führte den falschen Schein, die Heuche- lei und die Lüge im Gefolge mit sich: konnte einer nicht errei- chen, was er wollte, suchte er wenigstens dafür zu gelten, um vom Credit zu leben und zu genießen, solange es ging, bis die magere Zeit kam, wo er im Elend zu Grunde ging oder aben-
3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs.
der die Stiefeln zur Mode gebracht, eben ein deutſcher war. Freilich waren ſie beim Pariſer Herrn von etwas zierlicherer Form, aber, ebenfalls weit und faltig, hatten ſie die umgekrämp- ten abſtehenden Stulpen, die nur der Reiter bis oben hinauf zog. Bis zu Ende des Kriegs gewann der Stiefel immer mehr Boden, ohne freilich den Schuh ganz verdrängen zu können, der mit dem Frieden ſofort wieder die Herrſchaft übernahm.
Bis ſoweit hatte ſich die Kleidung unter dem Einfluß des Naturalismus und des Kriegs entwickelt, ohne daß im Allgemei- nen viel zu tadeln geweſen wäre. Die ſpaniſche Steifheit und die zur Eleganz gehörenden Mißformen waren völlig beſeitigt und ein freies, maleriſches und der Feinheit nicht ermangelndes Coſtüm an ſeine Stelle getreten. Allein die haltloſe, aus den Fugen gegangene Zeit drängte zur Uebertreibung und Ueberſtür- zung, ſodaß dem Manierirten und Geſpreizten bald wieder das andere Extrem gegenüber trat, das Groteskphantaſtiſche, und die Natürlichkeit ſich in Unnatur verkehrte, wie dem höfiſch abgemeſ- ſenen Weſen die ungebundene, zügel- und zuchtloſe Ausgelaſſen- heit des Soldaten folgte.
In dem langen verheerenden Kriege, deſſen Art und Weiſe ohnehin der Menſchlichkeit entſagt hatte, verlor die Welt den ſittlichen Halt und Gehalt. Es war eine Zeit des raſchen Wech- ſels und darum auch des raſchen Lebens. Niemand konnte dar- auf rechnen, noch morgen ſein zu nennen, was er heute beſaß; wenn er heute im friedlichen Glücke genoß, wälzte ſich morgen die Kriegswoge daher, verſchlang ihn oder trieb ihn am Bettel- ſtabe von Haus und Hof ins Elend hinein. Wer wollte ſich Mühe geben, ſeinen Beſitz zu ſichern und für Jahre hinaus zu ſorgen: ein raſcher Genuß des Vorhandenen und wieder Jagen nach neuem Gewinn, das war ein zeitgemäßeres Leben. Das Trachten nach dem Glück führte den falſchen Schein, die Heuche- lei und die Lüge im Gefolge mit ſich: konnte einer nicht errei- chen, was er wollte, ſuchte er wenigſtens dafür zu gelten, um vom Credit zu leben und zu genießen, ſolange es ging, bis die magere Zeit kam, wo er im Elend zu Grunde ging oder aben-
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3. Der Naturalismus u. d. Stutzerthum des dreißigjähr. Kriegs.
der die Stiefeln zur Mode gebracht, eben ein deutſcher war.
Freilich waren ſie beim Pariſer Herrn von etwas zierlicherer
Form, aber, ebenfalls weit und faltig, hatten ſie die umgekrämp-
ten abſtehenden Stulpen, die nur der Reiter bis oben hinauf
zog. Bis zu Ende des Kriegs gewann der Stiefel immer mehr
Boden, ohne freilich den Schuh ganz verdrängen zu können, der
mit dem Frieden ſofort wieder die Herrſchaft übernahm.
Bis ſoweit hatte ſich die Kleidung unter dem Einfluß des
Naturalismus und des Kriegs entwickelt, ohne daß im Allgemei-
nen viel zu tadeln geweſen wäre. Die ſpaniſche Steifheit und
die zur Eleganz gehörenden Mißformen waren völlig beſeitigt
und ein freies, maleriſches und der Feinheit nicht ermangelndes
Coſtüm an ſeine Stelle getreten. Allein die haltloſe, aus den
Fugen gegangene Zeit drängte zur Uebertreibung und Ueberſtür-
zung, ſodaß dem Manierirten und Geſpreizten bald wieder das
andere Extrem gegenüber trat, das Groteskphantaſtiſche, und die
Natürlichkeit ſich in Unnatur verkehrte, wie dem höfiſch abgemeſ-
ſenen Weſen die ungebundene, zügel- und zuchtloſe Ausgelaſſen-
heit des Soldaten folgte.
In dem langen verheerenden Kriege, deſſen Art und Weiſe
ohnehin der Menſchlichkeit entſagt hatte, verlor die Welt den
ſittlichen Halt und Gehalt. Es war eine Zeit des raſchen Wech-
ſels und darum auch des raſchen Lebens. Niemand konnte dar-
auf rechnen, noch morgen ſein zu nennen, was er heute beſaß;
wenn er heute im friedlichen Glücke genoß, wälzte ſich morgen
die Kriegswoge daher, verſchlang ihn oder trieb ihn am Bettel-
ſtabe von Haus und Hof ins Elend hinein. Wer wollte ſich
Mühe geben, ſeinen Beſitz zu ſichern und für Jahre hinaus zu
ſorgen: ein raſcher Genuß des Vorhandenen und wieder Jagen
nach neuem Gewinn, das war ein zeitgemäßeres Leben. Das
Trachten nach dem Glück führte den falſchen Schein, die Heuche-
lei und die Lüge im Gefolge mit ſich: konnte einer nicht errei-
chen, was er wollte, ſuchte er wenigſtens dafür zu gelten, um
vom Credit zu leben und zu genießen, ſolange es ging, bis die
magere Zeit kam, wo er im Elend zu Grunde ging oder aben-
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/193>, abgerufen am 08.07.2024.
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