mit verhülltem Haupt in der Kirche zu betrauern. Diese Ver- ordnung erscheint bereits als ein Zeichen der neuen Zeitrichtung.
Die Mode der Aufschlitzung, welche der Natur der Sache gemäß bei den Frauen mehr eine bloße Zierde geblieben war, als daß sie umgestaltend auf die gesammte Kleidung eingewirkt hätte, ist schon binnen wenigen Jahrzehnten aus der eigentlich modischen Damenwelt wieder völlig verschwunden, und an der einzigen Stelle, wo sie von größerer Bedeutung gewesen war, an den Aermeln, durch Wülste ersetzt. Diese treten schon gleich nach dem Jahre 1550 an den Schultern in solcher Höhe auf, daß sie der weiblichen Figur ein widernatürliches Ansehen geben. Der Kopf, ohnehin dicht in Kragen und Krause steckend, erscheint tief zwischen die Schultern versenkt, sodaß der etwaige Eindruck eines schönen Wuchses völlig vernichtet wird. Nichts Unvor- theilhafteres läßt sich denken, denn die schöne Linie der Ab- senkung vom Hals zur Schulter ist in's grade Gegentheil ver- kehrt. Uebrigens konnten sich diese Schulterpuffen in ihrer außerordentlichen Höhe nicht lange vor der wachsenden Breite der Krause behaupten, und so verschwinden sie schon in den siebziger Jahr entweder ganz oder nehmen die tiefer liegende und bescheidnere Gestalt an, wie wir ihr häufig in Weigel's Trachtenbuch begegnen.
Zwei Kleider, ein oberes und ein unteres, gehören nun auch wieder in Deutschland zur vollständigen Toilette einer wohl- gekleideten Dame von Stand. Die Magdeburger Ordnung von 1583 unterscheidet ausdrücklich die Oberröcke und die Unterröcke, unter welchen letzteren wir uns immer volle Kleider zu denken haben. Obwohl beide einer engen und langen Taille nebst Ein- pressung des Körpers zustreben, findet sich doch das Oberkleid eine Zeitlang im vornehmen und vornehmsten Stande und dann auch im bürgerlichen in auffallender Weite getragen; es vertritt gewissermaßen die Stelle des altmodischen Mantels. Darnach hat es seine größte und anschließende Enge unmittelbar unter den Achseln und, völlig ohne Taille, läuft es von hier ohne Brechung, ohne irgend eine Falte, sich erweiternd wie eine Glocke
III. Die Neuzeit.
mit verhülltem Haupt in der Kirche zu betrauern. Dieſe Ver- ordnung erſcheint bereits als ein Zeichen der neuen Zeitrichtung.
Die Mode der Aufſchlitzung, welche der Natur der Sache gemäß bei den Frauen mehr eine bloße Zierde geblieben war, als daß ſie umgeſtaltend auf die geſammte Kleidung eingewirkt hätte, iſt ſchon binnen wenigen Jahrzehnten aus der eigentlich modiſchen Damenwelt wieder völlig verſchwunden, und an der einzigen Stelle, wo ſie von größerer Bedeutung geweſen war, an den Aermeln, durch Wülſte erſetzt. Dieſe treten ſchon gleich nach dem Jahre 1550 an den Schultern in ſolcher Höhe auf, daß ſie der weiblichen Figur ein widernatürliches Anſehen geben. Der Kopf, ohnehin dicht in Kragen und Krauſe ſteckend, erſcheint tief zwiſchen die Schultern verſenkt, ſodaß der etwaige Eindruck eines ſchönen Wuchſes völlig vernichtet wird. Nichts Unvor- theilhafteres läßt ſich denken, denn die ſchöne Linie der Ab- ſenkung vom Hals zur Schulter iſt in’s grade Gegentheil ver- kehrt. Uebrigens konnten ſich dieſe Schulterpuffen in ihrer außerordentlichen Höhe nicht lange vor der wachſenden Breite der Krauſe behaupten, und ſo verſchwinden ſie ſchon in den ſiebziger Jahr entweder ganz oder nehmen die tiefer liegende und beſcheidnere Geſtalt an, wie wir ihr häufig in Weigel’s Trachtenbuch begegnen.
Zwei Kleider, ein oberes und ein unteres, gehören nun auch wieder in Deutſchland zur vollſtändigen Toilette einer wohl- gekleideten Dame von Stand. Die Magdeburger Ordnung von 1583 unterſcheidet ausdrücklich die Oberröcke und die Unterröcke, unter welchen letzteren wir uns immer volle Kleider zu denken haben. Obwohl beide einer engen und langen Taille nebſt Ein- preſſung des Körpers zuſtreben, findet ſich doch das Oberkleid eine Zeitlang im vornehmen und vornehmſten Stande und dann auch im bürgerlichen in auffallender Weite getragen; es vertritt gewiſſermaßen die Stelle des altmodiſchen Mantels. Darnach hat es ſeine größte und anſchließende Enge unmittelbar unter den Achſeln und, völlig ohne Taille, läuft es von hier ohne Brechung, ohne irgend eine Falte, ſich erweiternd wie eine Glocke
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III. Die Neuzeit.
mit verhülltem Haupt in der Kirche zu betrauern. Dieſe Ver-
ordnung erſcheint bereits als ein Zeichen der neuen Zeitrichtung.
Die Mode der Aufſchlitzung, welche der Natur der Sache
gemäß bei den Frauen mehr eine bloße Zierde geblieben war,
als daß ſie umgeſtaltend auf die geſammte Kleidung eingewirkt
hätte, iſt ſchon binnen wenigen Jahrzehnten aus der eigentlich
modiſchen Damenwelt wieder völlig verſchwunden, und an der
einzigen Stelle, wo ſie von größerer Bedeutung geweſen war, an
den Aermeln, durch Wülſte erſetzt. Dieſe treten ſchon gleich nach
dem Jahre 1550 an den Schultern in ſolcher Höhe auf, daß ſie
der weiblichen Figur ein widernatürliches Anſehen geben. Der
Kopf, ohnehin dicht in Kragen und Krauſe ſteckend, erſcheint tief
zwiſchen die Schultern verſenkt, ſodaß der etwaige Eindruck
eines ſchönen Wuchſes völlig vernichtet wird. Nichts Unvor-
theilhafteres läßt ſich denken, denn die ſchöne Linie der Ab-
ſenkung vom Hals zur Schulter iſt in’s grade Gegentheil ver-
kehrt. Uebrigens konnten ſich dieſe Schulterpuffen in ihrer
außerordentlichen Höhe nicht lange vor der wachſenden Breite
der Krauſe behaupten, und ſo verſchwinden ſie ſchon in den
ſiebziger Jahr entweder ganz oder nehmen die tiefer liegende
und beſcheidnere Geſtalt an, wie wir ihr häufig in Weigel’s
Trachtenbuch begegnen.
Zwei Kleider, ein oberes und ein unteres, gehören nun
auch wieder in Deutſchland zur vollſtändigen Toilette einer wohl-
gekleideten Dame von Stand. Die Magdeburger Ordnung von
1583 unterſcheidet ausdrücklich die Oberröcke und die Unterröcke,
unter welchen letzteren wir uns immer volle Kleider zu denken
haben. Obwohl beide einer engen und langen Taille nebſt Ein-
preſſung des Körpers zuſtreben, findet ſich doch das Oberkleid
eine Zeitlang im vornehmen und vornehmſten Stande und dann
auch im bürgerlichen in auffallender Weite getragen; es vertritt
gewiſſermaßen die Stelle des altmodiſchen Mantels. Darnach
hat es ſeine größte und anſchließende Enge unmittelbar unter
den Achſeln und, völlig ohne Taille, läuft es von hier ohne
Brechung, ohne irgend eine Falte, ſich erweiternd wie eine Glocke
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/142>, abgerufen am 08.07.2024.
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