Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. Wunderbaren. Der Orient aber ist die Heimath der Wundermär-chen. Die Pilgerfahrten und Kreuzzüge ließen das Geahnte mit eigenen Augen schauen, und die sarazenischen Länder waren aller- dings dem damals so eben aus der Barbarei auftauchenden Abend- lande eine Zauberwelt. Hier herrschte überall, in Spanien, Sici- lien, Africa, im glückseligen Orient eine überfeinerte Civilisation, eine hoch ausgebildete Industrie, die das Abendland bisher nur ahnend aus den kostbaren, reich und wundersam verzierten, far- benglühenden Stoffen hatte kennen lernen. Hier dufteten die Ro- sen- und Liliengärten mit den wasserspeienden Löwen, den rau- schenden Springbrunnen, eingefaßt von kühlen Bogengängen, unter ewig heiterem Himmel. Hier blühte eine großartige, phan- tastische, mit seltsamen Verschlingungen ornamentirte, mit den brillantesten Farben geschmückte Architektur von den schlanksten, kühnsten Formen und Verhältnissen und den weitesten, mit Säu- lenreihen durchzogenen Räumen, in deren fernab verklingendes Spiel von Licht und Schatten Auge und Seele sich träumerisch sinnend verloren. Das ganze gesellige Leben war heiter und geist- reich, fein und lebendig und vom zauberischen Hauch der Poesie und der Liebe durchweht. So ging auch dem Abendländer die Welt der Wunder und Dieser Sinn für das Phantastische und Wundersame bemäch- Falke, Trachten- und Modenwelt. I. 6
1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht. Wunderbaren. Der Orient aber iſt die Heimath der Wundermär-chen. Die Pilgerfahrten und Kreuzzüge ließen das Geahnte mit eigenen Augen ſchauen, und die ſarazeniſchen Länder waren aller- dings dem damals ſo eben aus der Barbarei auftauchenden Abend- lande eine Zauberwelt. Hier herrſchte überall, in Spanien, Sici- lien, Africa, im glückſeligen Orient eine überfeinerte Civiliſation, eine hoch ausgebildete Induſtrie, die das Abendland bisher nur ahnend aus den koſtbaren, reich und wunderſam verzierten, far- benglühenden Stoffen hatte kennen lernen. Hier dufteten die Ro- ſen- und Liliengärten mit den waſſerſpeienden Löwen, den rau- ſchenden Springbrunnen, eingefaßt von kühlen Bogengängen, unter ewig heiterem Himmel. Hier blühte eine großartige, phan- taſtiſche, mit ſeltſamen Verſchlingungen ornamentirte, mit den brillanteſten Farben geſchmückte Architektur von den ſchlankſten, kühnſten Formen und Verhältniſſen und den weiteſten, mit Säu- lenreihen durchzogenen Räumen, in deren fernab verklingendes Spiel von Licht und Schatten Auge und Seele ſich träumeriſch ſinnend verloren. Das ganze geſellige Leben war heiter und geiſt- reich, fein und lebendig und vom zauberiſchen Hauch der Poeſie und der Liebe durchweht. So ging auch dem Abendländer die Welt der Wunder und Dieſer Sinn für das Phantaſtiſche und Wunderſame bemäch- Falke, Trachten- und Modenwelt. I. 6
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1. Entwicklung einer originalen mittelalterlichen Tracht.
Wunderbaren. Der Orient aber iſt die Heimath der Wundermär-
chen. Die Pilgerfahrten und Kreuzzüge ließen das Geahnte mit
eigenen Augen ſchauen, und die ſarazeniſchen Länder waren aller-
dings dem damals ſo eben aus der Barbarei auftauchenden Abend-
lande eine Zauberwelt. Hier herrſchte überall, in Spanien, Sici-
lien, Africa, im glückſeligen Orient eine überfeinerte Civiliſation,
eine hoch ausgebildete Induſtrie, die das Abendland bisher nur
ahnend aus den koſtbaren, reich und wunderſam verzierten, far-
benglühenden Stoffen hatte kennen lernen. Hier dufteten die Ro-
ſen- und Liliengärten mit den waſſerſpeienden Löwen, den rau-
ſchenden Springbrunnen, eingefaßt von kühlen Bogengängen,
unter ewig heiterem Himmel. Hier blühte eine großartige, phan-
taſtiſche, mit ſeltſamen Verſchlingungen ornamentirte, mit den
brillanteſten Farben geſchmückte Architektur von den ſchlankſten,
kühnſten Formen und Verhältniſſen und den weiteſten, mit Säu-
lenreihen durchzogenen Räumen, in deren fernab verklingendes
Spiel von Licht und Schatten Auge und Seele ſich träumeriſch
ſinnend verloren. Das ganze geſellige Leben war heiter und geiſt-
reich, fein und lebendig und vom zauberiſchen Hauch der Poeſie
und der Liebe durchweht.
So ging auch dem Abendländer die Welt der Wunder und
Märchen, die Welt der phantaſtiſchen Schönheit auf, für die er
eine offene und empfängliche Seele mitbrachte. Heimkehrend wuß-
ten die Pilger von all dem Zauber zu erzählen, von der nie geſehe-
nen Pracht, von der abenteuerlichen Geſtalt der Thier- und Pflan-
zenwelt, und zum Beweiſe davon konnten ſie die koſtbaren Stoffe
vorlegen, durchwirkt mit Einhörnern, Greifen, Drachen, Vögeln
mit Menſchenköpfen, Menſchen mit Thierköpfen und ſonſtigen
willkürlichen Gebilden der orientaliſchen Phantaſie. Wer mochte
da noch Zweifel hegen über die Abenteuer, die Herzog Ernſt auf
ſeinen wunderbaren Fahrten beſtanden hatte! ſtaunend und gläu-
big hing Auge und Ohr des Volks an dem Munde der verzückten
Erzähler.
Dieſer Sinn für das Phantaſtiſche und Wunderſame bemäch-
tigte ſich auch alſobald der Kunſt, aber hier legte das Geſetz der
Falke, Trachten- und Modenwelt. I. 6
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