Veränderungen selbst darlegen, welche an den Trachten in dersel- ben Zeit vor sich gingen, als jene Moden culminirten, gegen das Jahr 1400 und in den nächstfolgenden Jahrzehnten.
Von vorn herein müssen wir darauf Verzicht leisten, diese bunte Welt in ihrem ganzen Reichthum erschöpfend darstellen zu wollen. Wie in allen Dingen der Einzelne dem Althergebrachten und Allgemeingültigen entgegentrat und sich vom Gesetz loszu- ringen suchte, so schien auch auf diesem Gebiet, der unerbittlichen Mode zum Trotz, die individuelle Laune allein die Herrschaft zu führen. Dem erfinderischen Kopf des einzelnen Modenarren -- es ist das eben der Charakter dieser Zeit -- blieb alles überlassen. Und so schoß eine so außerordentliche Menge verschiedenartiger Formen hervor -- "als vor niemals ist gehört worden", sagt die Chronik --, daß allein noch die nächstfolgende Zeit, die zweite Hälfte des funfzehnten Jahrhunderts, siegreich damit zu wetteifern vermag. Der Versuch würde vergeblich sein, ein Bild dersel- ben in Worten zu geben, da sie eben wegen ihrer Absonderlich- keit, man kann oft sagen wegen ihrer Formlosigkeit, sich aller Beschreibung entziehen. Indessen wie willkürlich auch immer er- sonnen, wie widerspruchsvoll dem Anscheine nach, sind und blei- ben sie doch Kinder ihrer Zeit, aus demselben Geiste geboren und folgen seinen Gesetzen. Diese bilden den Ariadnefaden, an wel- chem wir uns in diesem Labyrinth des funfzehnten Jahrhunderts zurecht finden wollen. --
In der Männerwelt blieb bei der gewöhnlichen Kleidung die Enge und Kürze das allgemeine Bestreben wie bisher in mög- lichst gesteigertem Maße. Denn der vorn zugeknöpfte Schecken- rock, der nach wie vor die gewöhnliche Tracht des Mannes blieb und ohne Oberkleid getragen wurde, wenn nicht die Kälte oder besondere Veranlassung dazu nöthigte, erreichte in den beiden letzten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts nicht mehr die Oberschenkel. Da sich nun das lange Beinkleid aufs allerengste anlegte und jedes Glied zwar verdeckte, aber in seiner Form aufs genauste markirte, so lag einer ehrbaren Obrigkeit damaliger Zeit eine Verordnung nicht fern, wie sie im Jahr 1390 zu Constanz
2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
Veränderungen ſelbſt darlegen, welche an den Trachten in derſel- ben Zeit vor ſich gingen, als jene Moden culminirten, gegen das Jahr 1400 und in den nächſtfolgenden Jahrzehnten.
Von vorn herein müſſen wir darauf Verzicht leiſten, dieſe bunte Welt in ihrem ganzen Reichthum erſchöpfend darſtellen zu wollen. Wie in allen Dingen der Einzelne dem Althergebrachten und Allgemeingültigen entgegentrat und ſich vom Geſetz loszu- ringen ſuchte, ſo ſchien auch auf dieſem Gebiet, der unerbittlichen Mode zum Trotz, die individuelle Laune allein die Herrſchaft zu führen. Dem erfinderiſchen Kopf des einzelnen Modenarren — es iſt das eben der Charakter dieſer Zeit — blieb alles überlaſſen. Und ſo ſchoß eine ſo außerordentliche Menge verſchiedenartiger Formen hervor — „als vor niemals iſt gehört worden“, ſagt die Chronik —, daß allein noch die nächſtfolgende Zeit, die zweite Hälfte des funfzehnten Jahrhunderts, ſiegreich damit zu wetteifern vermag. Der Verſuch würde vergeblich ſein, ein Bild derſel- ben in Worten zu geben, da ſie eben wegen ihrer Abſonderlich- keit, man kann oft ſagen wegen ihrer Formloſigkeit, ſich aller Beſchreibung entziehen. Indeſſen wie willkürlich auch immer er- ſonnen, wie widerſpruchsvoll dem Anſcheine nach, ſind und blei- ben ſie doch Kinder ihrer Zeit, aus demſelben Geiſte geboren und folgen ſeinen Geſetzen. Dieſe bilden den Ariadnefaden, an wel- chem wir uns in dieſem Labyrinth des funfzehnten Jahrhunderts zurecht finden wollen. —
In der Männerwelt blieb bei der gewöhnlichen Kleidung die Enge und Kürze das allgemeine Beſtreben wie bisher in mög- lichſt geſteigertem Maße. Denn der vorn zugeknöpfte Schecken- rock, der nach wie vor die gewöhnliche Tracht des Mannes blieb und ohne Oberkleid getragen wurde, wenn nicht die Kälte oder beſondere Veranlaſſung dazu nöthigte, erreichte in den beiden letzten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts nicht mehr die Oberſchenkel. Da ſich nun das lange Beinkleid aufs allerengſte anlegte und jedes Glied zwar verdeckte, aber in ſeiner Form aufs genauſte markirte, ſo lag einer ehrbaren Obrigkeit damaliger Zeit eine Verordnung nicht fern, wie ſie im Jahr 1390 zu Conſtanz
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2. Die Zeit des Luxus und der Entartung.
Veränderungen ſelbſt darlegen, welche an den Trachten in derſel-
ben Zeit vor ſich gingen, als jene Moden culminirten, gegen das
Jahr 1400 und in den nächſtfolgenden Jahrzehnten.
Von vorn herein müſſen wir darauf Verzicht leiſten, dieſe
bunte Welt in ihrem ganzen Reichthum erſchöpfend darſtellen zu
wollen. Wie in allen Dingen der Einzelne dem Althergebrachten
und Allgemeingültigen entgegentrat und ſich vom Geſetz loszu-
ringen ſuchte, ſo ſchien auch auf dieſem Gebiet, der unerbittlichen
Mode zum Trotz, die individuelle Laune allein die Herrſchaft zu
führen. Dem erfinderiſchen Kopf des einzelnen Modenarren —
es iſt das eben der Charakter dieſer Zeit — blieb alles überlaſſen.
Und ſo ſchoß eine ſo außerordentliche Menge verſchiedenartiger
Formen hervor — „als vor niemals iſt gehört worden“, ſagt die
Chronik —, daß allein noch die nächſtfolgende Zeit, die zweite
Hälfte des funfzehnten Jahrhunderts, ſiegreich damit zu wetteifern
vermag. Der Verſuch würde vergeblich ſein, ein Bild derſel-
ben in Worten zu geben, da ſie eben wegen ihrer Abſonderlich-
keit, man kann oft ſagen wegen ihrer Formloſigkeit, ſich aller
Beſchreibung entziehen. Indeſſen wie willkürlich auch immer er-
ſonnen, wie widerſpruchsvoll dem Anſcheine nach, ſind und blei-
ben ſie doch Kinder ihrer Zeit, aus demſelben Geiſte geboren und
folgen ſeinen Geſetzen. Dieſe bilden den Ariadnefaden, an wel-
chem wir uns in dieſem Labyrinth des funfzehnten Jahrhunderts
zurecht finden wollen. —
In der Männerwelt blieb bei der gewöhnlichen Kleidung
die Enge und Kürze das allgemeine Beſtreben wie bisher in mög-
lichſt geſteigertem Maße. Denn der vorn zugeknöpfte Schecken-
rock, der nach wie vor die gewöhnliche Tracht des Mannes blieb
und ohne Oberkleid getragen wurde, wenn nicht die Kälte oder
beſondere Veranlaſſung dazu nöthigte, erreichte in den beiden
letzten Jahrzehnten des vierzehnten Jahrhunderts nicht mehr die
Oberſchenkel. Da ſich nun das lange Beinkleid aufs allerengſte
anlegte und jedes Glied zwar verdeckte, aber in ſeiner Form aufs
genauſte markirte, ſo lag einer ehrbaren Obrigkeit damaliger Zeit
eine Verordnung nicht fern, wie ſie im Jahr 1390 zu Conſtanz
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/241>, abgerufen am 08.07.2024.
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