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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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II. Das Mittelalter.

In der That stehen wir mit der Mitte des vierzehnten Jahr-
hunderts an einem der großen Wendepunkte der Culturgeschichte.
Die Blüthe des eigentlichen Mittelalters ist vorüber: die Poesie
ist verklungen, die Fackel der Schwärmerei ist erloschen, die Gluth
des Glaubens und der Feuereifer verglommen; mit dem Herab-
steigen der Frau von ihrem heiligen Thron und dem Aufhören
ihres Cultus ist die Minne in Wort und Begriff zum gemeinen
Genuß geworden; die feinen und natürlichen Formen höfisch
ritterlicher Geselligkeit haben sich in romantische, an Aberwitz
streifende Galanterie und Etiquette verwandelt, und das Sehnen
in die unbestimmte Ferne, das Aufgehen in Gefühle und die
Entsagung sind dem realen Vollgenuß des unmittelbaren Lebens
gewichen. Es ist der Schritt aus dem Uebersinnlichen in die
Sinnlichkeit, vom Himmel auf die Erde, aus der Phantasie zur
Natur. In alle Sphären des Lebens und der Kunst dringt ein
gewisser Realismus ein, der in der socialen Welt zwar vielfach
zur Auflösung der sittlichen Ordnung führt, in der Kunst jedoch,
noch in Verbindung mit der früheren Uebersinnlichkeit oder der
tiefen Auffassung alles Geistigen, grade die reichsten und üppig-
sten Blüthen treibt. Die derbe Lebenslust, die sich mit allen Or-
ganen an das materielle Dasein, an diese Welt, klammert, läßt
kaum ahnen, daß darüber eine andere Welt ins Grab sinkt -- so
lustig, so bunt und reich bewegt sich die Menschheit im Behagen
an sich selbst, im Vollgenuß des Daseins.

Diese Lust des Lebens führt, wie eben angedeutet, zu einem
denkwürdigen Resultat in der Kunst, das zwar alle Zweige er-
greift, allein vorzugsweise in der Malerei sich glänzend und glück-
lich bethätigt. Die Architektur und die Plastik haben beide schon
in der vorigen Periode ihre Blüthezeit gefeiert; das bewegte,
bunte, leidenschaftliche Drängen und Treiben, welches nun der
mehr dramatischen Kunst, der Malerei, zu Gute kommt, stört
jene in dem Gleichgewicht ihrer Gesetze, in ihrer steinernen Ruhe.
Die Architektur, unantastbaren Gesetzen unterworfen und auf
große Formen angewiesen, soll sich in die Fülle des Kleinen zer-
gliedern und sich bedecken mit einer unendlichen Masse krauser,

II. Das Mittelalter.

In der That ſtehen wir mit der Mitte des vierzehnten Jahr-
hunderts an einem der großen Wendepunkte der Culturgeſchichte.
Die Blüthe des eigentlichen Mittelalters iſt vorüber: die Poeſie
iſt verklungen, die Fackel der Schwärmerei iſt erloſchen, die Gluth
des Glaubens und der Feuereifer verglommen; mit dem Herab-
ſteigen der Frau von ihrem heiligen Thron und dem Aufhören
ihres Cultus iſt die Minne in Wort und Begriff zum gemeinen
Genuß geworden; die feinen und natürlichen Formen höfiſch
ritterlicher Geſelligkeit haben ſich in romantiſche, an Aberwitz
ſtreifende Galanterie und Etiquette verwandelt, und das Sehnen
in die unbeſtimmte Ferne, das Aufgehen in Gefühle und die
Entſagung ſind dem realen Vollgenuß des unmittelbaren Lebens
gewichen. Es iſt der Schritt aus dem Ueberſinnlichen in die
Sinnlichkeit, vom Himmel auf die Erde, aus der Phantaſie zur
Natur. In alle Sphären des Lebens und der Kunſt dringt ein
gewiſſer Realismus ein, der in der ſocialen Welt zwar vielfach
zur Auflöſung der ſittlichen Ordnung führt, in der Kunſt jedoch,
noch in Verbindung mit der früheren Ueberſinnlichkeit oder der
tiefen Auffaſſung alles Geiſtigen, grade die reichſten und üppig-
ſten Blüthen treibt. Die derbe Lebensluſt, die ſich mit allen Or-
ganen an das materielle Daſein, an dieſe Welt, klammert, läßt
kaum ahnen, daß darüber eine andere Welt ins Grab ſinkt — ſo
luſtig, ſo bunt und reich bewegt ſich die Menſchheit im Behagen
an ſich ſelbſt, im Vollgenuß des Daſeins.

Dieſe Luſt des Lebens führt, wie eben angedeutet, zu einem
denkwürdigen Reſultat in der Kunſt, das zwar alle Zweige er-
greift, allein vorzugsweiſe in der Malerei ſich glänzend und glück-
lich bethätigt. Die Architektur und die Plaſtik haben beide ſchon
in der vorigen Periode ihre Blüthezeit gefeiert; das bewegte,
bunte, leidenſchaftliche Drängen und Treiben, welches nun der
mehr dramatiſchen Kunſt, der Malerei, zu Gute kommt, ſtört
jene in dem Gleichgewicht ihrer Geſetze, in ihrer ſteinernen Ruhe.
Die Architektur, unantaſtbaren Geſetzen unterworfen und auf
große Formen angewieſen, ſoll ſich in die Fülle des Kleinen zer-
gliedern und ſich bedecken mit einer unendlichen Maſſe krauſer,

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[172/0190] II. Das Mittelalter. In der That ſtehen wir mit der Mitte des vierzehnten Jahr- hunderts an einem der großen Wendepunkte der Culturgeſchichte. Die Blüthe des eigentlichen Mittelalters iſt vorüber: die Poeſie iſt verklungen, die Fackel der Schwärmerei iſt erloſchen, die Gluth des Glaubens und der Feuereifer verglommen; mit dem Herab- ſteigen der Frau von ihrem heiligen Thron und dem Aufhören ihres Cultus iſt die Minne in Wort und Begriff zum gemeinen Genuß geworden; die feinen und natürlichen Formen höfiſch ritterlicher Geſelligkeit haben ſich in romantiſche, an Aberwitz ſtreifende Galanterie und Etiquette verwandelt, und das Sehnen in die unbeſtimmte Ferne, das Aufgehen in Gefühle und die Entſagung ſind dem realen Vollgenuß des unmittelbaren Lebens gewichen. Es iſt der Schritt aus dem Ueberſinnlichen in die Sinnlichkeit, vom Himmel auf die Erde, aus der Phantaſie zur Natur. In alle Sphären des Lebens und der Kunſt dringt ein gewiſſer Realismus ein, der in der ſocialen Welt zwar vielfach zur Auflöſung der ſittlichen Ordnung führt, in der Kunſt jedoch, noch in Verbindung mit der früheren Ueberſinnlichkeit oder der tiefen Auffaſſung alles Geiſtigen, grade die reichſten und üppig- ſten Blüthen treibt. Die derbe Lebensluſt, die ſich mit allen Or- ganen an das materielle Daſein, an dieſe Welt, klammert, läßt kaum ahnen, daß darüber eine andere Welt ins Grab ſinkt — ſo luſtig, ſo bunt und reich bewegt ſich die Menſchheit im Behagen an ſich ſelbſt, im Vollgenuß des Daſeins. Dieſe Luſt des Lebens führt, wie eben angedeutet, zu einem denkwürdigen Reſultat in der Kunſt, das zwar alle Zweige er- greift, allein vorzugsweiſe in der Malerei ſich glänzend und glück- lich bethätigt. Die Architektur und die Plaſtik haben beide ſchon in der vorigen Periode ihre Blüthezeit gefeiert; das bewegte, bunte, leidenſchaftliche Drängen und Treiben, welches nun der mehr dramatiſchen Kunſt, der Malerei, zu Gute kommt, ſtört jene in dem Gleichgewicht ihrer Geſetze, in ihrer ſteinernen Ruhe. Die Architektur, unantaſtbaren Geſetzen unterworfen und auf große Formen angewieſen, ſoll ſich in die Fülle des Kleinen zer- gliedern und ſich bedecken mit einer unendlichen Maſſe krauſer,

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten01_1858/190>, abgerufen am 26.04.2024.