Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eschstruth, Nataly von: Katz' und Maus. Berlin, 1886.

Bild:
<< vorherige Seite
Eine blaue Glockenblume,
Schlank und zierlich, zart geneiget,
Hebt empor sie, schaut sie sinnend,
Prüfend an und sinnt und schweiget.
"Was beginnst Du?" fragt Gerhardus,
Blickt auf Hand und Blume nieder,
"Suchest Du zu meinem Troste
Süße, blüthenduftge Lieder?"
"Nein", spricht lächelnd sie entgegen,
"Bei dem Anblick dieses schlanken
Wunderholden Blumenkelches
Kamen plötzlich mir Gedanken,
Kindlich unverständ'ge Träume,
Wie oft Mädchen denken, dichten;
Aber, willst Du sie vergeben,
Will ich gern sie Dir berichten."
"Rede, Dirnlein!" ruft er eifrig,
Und bestrahlt vom Sonnenlichte,
Blickt er nieder zu dem holden
Engelsfrommen Angesichte.
"Sieh" -- sagt Gudula mit leisen,
Seelenvollen Flüsterlauten,
"Hab' geglaubt, die Hände Gottes
Formten stets die schönsten Bauten,
Wenn auch nicht aus Stein gefüget,
Hohe, stolze Kathedrale,
So doch manchen kleinen Tempel
Tief im Wald, im Feld, im Thale!
Hat daselbst die edlen Muster
Ganz verborgen uns gewiesen,
Läßt die wundervollste Rundung
8*
Eine blaue Glockenblume,
Schlank und zierlich, zart geneiget,
Hebt empor ſie, ſchaut ſie ſinnend,
Prüfend an und ſinnt und ſchweiget.
„Was beginnſt Du?“ fragt Gerhardus,
Blickt auf Hand und Blume nieder,
„Sucheſt Du zu meinem Troſte
Süße, blüthenduftge Lieder?“
„Nein“, ſpricht lächelnd ſie entgegen,
„Bei dem Anblick dieſes ſchlanken
Wunderholden Blumenkelches
Kamen plötzlich mir Gedanken,
Kindlich unverſtänd'ge Träume,
Wie oft Mädchen denken, dichten;
Aber, willſt Du ſie vergeben,
Will ich gern ſie Dir berichten.“
„Rede, Dirnlein!“ ruft er eifrig,
Und beſtrahlt vom Sonnenlichte,
Blickt er nieder zu dem holden
Engelsfrommen Angeſichte.
„Sieh“ — ſagt Gudula mit leiſen,
Seelenvollen Flüſterlauten,
„Hab' geglaubt, die Hände Gottes
Formten ſtets die ſchönſten Bauten,
Wenn auch nicht aus Stein gefüget,
Hohe, ſtolze Kathedrale,
So doch manchen kleinen Tempel
Tief im Wald, im Feld, im Thale!
Hat daſelbſt die edlen Muſter
Ganz verborgen uns gewieſen,
Läßt die wundervollſte Rundung
8*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <pb facs="#f0129" n="115"/>
          <lg n="4">
            <l>Eine blaue Glockenblume,</l><lb/>
            <l>Schlank und zierlich, zart geneiget,</l><lb/>
            <l>Hebt empor &#x017F;ie, &#x017F;chaut &#x017F;ie &#x017F;innend,</l><lb/>
            <l>Prüfend an und &#x017F;innt und &#x017F;chweiget.</l><lb/>
            <l>&#x201E;Was beginn&#x017F;t Du?&#x201C; fragt Gerhardus,</l><lb/>
            <l>Blickt auf Hand und Blume nieder,</l><lb/>
            <l>&#x201E;Suche&#x017F;t Du zu meinem Tro&#x017F;te</l><lb/>
            <l>Süße, blüthenduftge Lieder?&#x201C;</l><lb/>
            <l>&#x201E;Nein&#x201C;, &#x017F;pricht lächelnd &#x017F;ie entgegen,</l><lb/>
            <l>&#x201E;Bei dem Anblick die&#x017F;es &#x017F;chlanken</l><lb/>
            <l>Wunderholden Blumenkelches</l><lb/>
            <l>Kamen plötzlich mir Gedanken,</l><lb/>
            <l>Kindlich unver&#x017F;tänd'ge Träume,</l><lb/>
            <l>Wie oft Mädchen denken, dichten;</l><lb/>
            <l>Aber, will&#x017F;t Du &#x017F;ie vergeben,</l><lb/>
            <l>Will ich gern &#x017F;ie Dir berichten.&#x201C;</l><lb/>
            <l>&#x201E;Rede, Dirnlein!&#x201C; ruft er eifrig,</l><lb/>
            <l>Und be&#x017F;trahlt vom Sonnenlichte,</l><lb/>
            <l>Blickt er nieder zu dem holden</l><lb/>
            <l>Engelsfrommen Ange&#x017F;ichte.</l><lb/>
            <l>&#x201E;Sieh&#x201C; &#x2014; &#x017F;agt Gudula mit lei&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Seelenvollen Flü&#x017F;terlauten,</l><lb/>
            <l>&#x201E;Hab' geglaubt, die Hände Gottes</l><lb/>
            <l>Formten &#x017F;tets die &#x017F;chön&#x017F;ten Bauten,</l><lb/>
            <l>Wenn auch nicht aus Stein gefüget,</l><lb/>
            <l>Hohe, &#x017F;tolze Kathedrale,</l><lb/>
            <l>So doch manchen kleinen Tempel</l><lb/>
            <l>Tief im Wald, im Feld, im Thale!</l><lb/>
            <l>Hat da&#x017F;elb&#x017F;t die edlen Mu&#x017F;ter</l><lb/>
            <l>Ganz verborgen uns gewie&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Läßt die wundervoll&#x017F;te Rundung</l><lb/>
          </lg>
          <fw place="bottom" type="sig">8*<lb/></fw>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0129] Eine blaue Glockenblume, Schlank und zierlich, zart geneiget, Hebt empor ſie, ſchaut ſie ſinnend, Prüfend an und ſinnt und ſchweiget. „Was beginnſt Du?“ fragt Gerhardus, Blickt auf Hand und Blume nieder, „Sucheſt Du zu meinem Troſte Süße, blüthenduftge Lieder?“ „Nein“, ſpricht lächelnd ſie entgegen, „Bei dem Anblick dieſes ſchlanken Wunderholden Blumenkelches Kamen plötzlich mir Gedanken, Kindlich unverſtänd'ge Träume, Wie oft Mädchen denken, dichten; Aber, willſt Du ſie vergeben, Will ich gern ſie Dir berichten.“ „Rede, Dirnlein!“ ruft er eifrig, Und beſtrahlt vom Sonnenlichte, Blickt er nieder zu dem holden Engelsfrommen Angeſichte. „Sieh“ — ſagt Gudula mit leiſen, Seelenvollen Flüſterlauten, „Hab' geglaubt, die Hände Gottes Formten ſtets die ſchönſten Bauten, Wenn auch nicht aus Stein gefüget, Hohe, ſtolze Kathedrale, So doch manchen kleinen Tempel Tief im Wald, im Feld, im Thale! Hat daſelbſt die edlen Muſter Ganz verborgen uns gewieſen, Läßt die wundervollſte Rundung 8*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eschstruth_katz_1886
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eschstruth_katz_1886/129
Zitationshilfe: Eschstruth, Nataly von: Katz' und Maus. Berlin, 1886, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eschstruth_katz_1886/129>, abgerufen am 25.11.2024.