solcher Gewalt auf's Herz, daß ich bitterlich hätte wei¬ nen mögen, der stille Garten vor dem Schloß in frü¬ her Morgenstunde, und wie ich da hinter dem Strauch so glückseelig war, ehe mir die dumme Fliege in die Nase flog. Ich konnte mich nicht länger halten. Ich kletterte auf den vergoldeten Zierrathen über das Git¬ terthor, und schwang mich in den Garten hinunter, woher der Gesang kam. Da bemerkte ich, daß eine schlanke weiße Gestalt von fern hinter einer Pappel stand und mir erst verwundert zusah, als ich über das Git¬ terwerk kletterte, dann aber auf einmal so schnell durch den dunklen Garten nach dem Hause zuflog, daß man sie im Mondschein kaum füßeln sehen konnte. "Das war sie selbst!" rief ich aus, und das Herz schlug mir vor Freude, denn ich erkannte sie gleich an den kleinen, geschwinden Füßchen wieder. Es war nur schlimm, daß ich mir beim Herunterspringen vom Gartenthore den rechten Fuß etwas vertreten hatte, ich mußte daher erst ein paarmal mit dem Beine schlenkern, eh' ich zu dem Hause nachspringen konnte. Aber da hatten sie unterdeß Thür und Fenster fest verschloßen. Ich klopfte ganz bescheiden an, horchte und klopfte wieder. Da war es nicht anders, als wenn es drinnen leise flüsterte und kicherte, ja einmal kam es mir vor, als wenn zwei helle Augen zwischen den Jalousien im Mondschein hervorfunkelten. Dann war auf einmal wieder alles still.
"Sie weiß nur nicht, daß ich es bin," dachte ich, zog die Geige, die ich allzeit bei mir trage, hervor,
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ſolcher Gewalt auf's Herz, daß ich bitterlich haͤtte wei¬ nen moͤgen, der ſtille Garten vor dem Schloß in fruͤ¬ her Morgenſtunde, und wie ich da hinter dem Strauch ſo gluͤckſeelig war, ehe mir die dumme Fliege in die Naſe flog. Ich konnte mich nicht laͤnger halten. Ich kletterte auf den vergoldeten Zierrathen uͤber das Git¬ terthor, und ſchwang mich in den Garten hinunter, woher der Geſang kam. Da bemerkte ich, daß eine ſchlanke weiße Geſtalt von fern hinter einer Pappel ſtand und mir erſt verwundert zuſah, als ich uͤber das Git¬ terwerk kletterte, dann aber auf einmal ſo ſchnell durch den dunklen Garten nach dem Hauſe zuflog, daß man ſie im Mondſchein kaum fuͤßeln ſehen konnte. „Das war ſie ſelbſt!“ rief ich aus, und das Herz ſchlug mir vor Freude, denn ich erkannte ſie gleich an den kleinen, geſchwinden Fuͤßchen wieder. Es war nur ſchlimm, daß ich mir beim Herunterſpringen vom Gartenthore den rechten Fuß etwas vertreten hatte, ich mußte daher erſt ein paarmal mit dem Beine ſchlenkern, eh' ich zu dem Hauſe nachſpringen konnte. Aber da hatten ſie unterdeß Thuͤr und Fenſter feſt verſchloßen. Ich klopfte ganz beſcheiden an, horchte und klopfte wieder. Da war es nicht anders, als wenn es drinnen leiſe fluͤſterte und kicherte, ja einmal kam es mir vor, als wenn zwei helle Augen zwiſchen den Jalouſien im Mondſchein hervorfunkelten. Dann war auf einmal wieder alles ſtill.
„Sie weiß nur nicht, daß ich es bin,“ dachte ich, zog die Geige, die ich allzeit bei mir trage, hervor,
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ſolcher Gewalt auf's Herz, daß ich bitterlich haͤtte wei¬
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her Morgenſtunde, und wie ich da hinter dem Strauch
ſo gluͤckſeelig war, ehe mir die dumme Fliege in die
Naſe flog. Ich konnte mich nicht laͤnger halten. Ich
kletterte auf den vergoldeten Zierrathen uͤber das Git¬
terthor, und ſchwang mich in den Garten hinunter,
woher der Geſang kam. Da bemerkte ich, daß eine
ſchlanke weiße Geſtalt von fern hinter einer Pappel ſtand
und mir erſt verwundert zuſah, als ich uͤber das Git¬
terwerk kletterte, dann aber auf einmal ſo ſchnell durch
den dunklen Garten nach dem Hauſe zuflog, daß man
ſie im Mondſchein kaum fuͤßeln ſehen konnte. „Das
war ſie ſelbſt!“ rief ich aus, und das Herz ſchlug mir
vor Freude, denn ich erkannte ſie gleich an den kleinen,
geſchwinden Fuͤßchen wieder. Es war nur ſchlimm,
daß ich mir beim Herunterſpringen vom Gartenthore
den rechten Fuß etwas vertreten hatte, ich mußte daher
erſt ein paarmal mit dem Beine ſchlenkern, eh' ich zu
dem Hauſe nachſpringen konnte. Aber da hatten ſie
unterdeß Thuͤr und Fenſter feſt verſchloßen. Ich klopfte
ganz beſcheiden an, horchte und klopfte wieder. Da
war es nicht anders, als wenn es drinnen leiſe fluͤſterte
und kicherte, ja einmal kam es mir vor, als wenn zwei
helle Augen zwiſchen den Jalouſien im Mondſchein
hervorfunkelten. Dann war auf einmal wieder alles
ſtill.
„Sie weiß nur nicht, daß ich es bin,“ dachte ich,
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Im Unterschied zur Novelle „Aus dem Leben eines T… [mehr]
Im Unterschied zur Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ erschien die Novelle „Das Marmorbild“ erstmalig 1819 im „Frauentaschenbuch für das Jahr 1819“ herausgegeben von Friedrich de La Motte-Fouqué.
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Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Berlin, 1826, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_taugenichts_1826/93>, abgerufen am 23.07.2024.
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