ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Grase zer¬ streut, aber der Frühling hatte den verlassenen Berg wieder bestiegen, und spielte fast wehmüthig in dem stillen Hause. Seltsame Sagen gingen in der Ge¬ gend von diesem einsamen Ort. Die Hirten hörten oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬ derschöne bleiche Frau sollte sich manchmal dort in dem ausgebrochenen Fenster sehen lassen. -- Florentine war noch nie allein hier gewesen, jetzt verlockte sie der eigene Reiz des Grauens, sie betrat erst vorsichtig und zau¬ dernd, dann immer kecker die kühlen, von oben verschat¬ teten Hallen. Durch die Mauerlücken blickten zuwei¬ len die Thäler schillernd aus der sonnenhellen Tiefe herauf, nur hin und her sang ein Gebirgsvogel mit fremdem Schall, und verstörte Eidechsen fuhren raschelnd unter das Unkraut, daß sie unwillkürlich zusammenschrak.
Jetzt kam sie in den innern Burghof, da stand ein wilder Kirschbaum in voller Blüte, dunkelrothe Blumen glühten zwischen den Steinen, einzelne Schmet¬ terlinge flatterten ungewiß in der trüben, brütenden Schwüle; und als sie plötzlich um den Pfeiler trat, sah sie eine schöne bleiche Frau in einem seltsamen himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Rasen sitzen, die wandte sich nicht, und kämmte schweigend ihr lang herabwallendes rabenschwarzes Haar. -- Flo¬ rentine blickte noch einmal scharf hin, dann, vom Ent¬ setzen überwältigt, ergriff sie die Flucht.
ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Graſe zer¬ ſtreut, aber der Fruͤhling hatte den verlaſſenen Berg wieder beſtiegen, und ſpielte faſt wehmuͤthig in dem ſtillen Hauſe. Seltſame Sagen gingen in der Ge¬ gend von dieſem einſamen Ort. Die Hirten hoͤrten oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬ derſchoͤne bleiche Frau ſollte ſich manchmal dort in dem ausgebrochenen Fenſter ſehen laſſen. — Florentine war noch nie allein hier geweſen, jetzt verlockte ſie der eigene Reiz des Grauens, ſie betrat erſt vorſichtig und zau¬ dernd, dann immer kecker die kuͤhlen, von oben verſchat¬ teten Hallen. Durch die Mauerluͤcken blickten zuwei¬ len die Thaͤler ſchillernd aus der ſonnenhellen Tiefe herauf, nur hin und her ſang ein Gebirgsvogel mit fremdem Schall, und verſtoͤrte Eidechſen fuhren raſchelnd unter das Unkraut, daß ſie unwillkuͤrlich zuſammenſchrak.
Jetzt kam ſie in den innern Burghof, da ſtand ein wilder Kirſchbaum in voller Bluͤte, dunkelrothe Blumen gluͤhten zwiſchen den Steinen, einzelne Schmet¬ terlinge flatterten ungewiß in der truͤben, bruͤtenden Schwuͤle; und als ſie ploͤtzlich um den Pfeiler trat, ſah ſie eine ſchoͤne bleiche Frau in einem ſeltſamen himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Raſen ſitzen, die wandte ſich nicht, und kaͤmmte ſchweigend ihr lang herabwallendes rabenſchwarzes Haar. — Flo¬ rentine blickte noch einmal ſcharf hin, dann, vom Ent¬ ſetzen uͤberwaͤltigt, ergriff ſie die Flucht.
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ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Graſe zer¬
ſtreut, aber der Fruͤhling hatte den verlaſſenen Berg
wieder beſtiegen, und ſpielte faſt wehmuͤthig in dem
ſtillen Hauſe. Seltſame Sagen gingen in der Ge¬
gend von dieſem einſamen Ort. Die Hirten hoͤrten
oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬
derſchoͤne bleiche Frau ſollte ſich manchmal dort in dem
ausgebrochenen Fenſter ſehen laſſen. — Florentine war
noch nie allein hier geweſen, jetzt verlockte ſie der eigene
Reiz des Grauens, ſie betrat erſt vorſichtig und zau¬
dernd, dann immer kecker die kuͤhlen, von oben verſchat¬
teten Hallen. Durch die Mauerluͤcken blickten zuwei¬
len die Thaͤler ſchillernd aus der ſonnenhellen Tiefe
herauf, nur hin und her ſang ein Gebirgsvogel mit
fremdem Schall, und verſtoͤrte Eidechſen fuhren raſchelnd
unter das Unkraut, daß ſie unwillkuͤrlich zuſammenſchrak.
Jetzt kam ſie in den innern Burghof, da ſtand
ein wilder Kirſchbaum in voller Bluͤte, dunkelrothe
Blumen gluͤhten zwiſchen den Steinen, einzelne Schmet¬
terlinge flatterten ungewiß in der truͤben, bruͤtenden
Schwuͤle; und als ſie ploͤtzlich um den Pfeiler trat,
ſah ſie eine ſchoͤne bleiche Frau in einem ſeltſamen
himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Raſen
ſitzen, die wandte ſich nicht, und kaͤmmte ſchweigend
ihr lang herabwallendes rabenſchwarzes Haar. — Flo¬
rentine blickte noch einmal ſcharf hin, dann, vom Ent¬
ſetzen uͤberwaͤltigt, ergriff ſie die Flucht.
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Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/59>, abgerufen am 21.11.2024.
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