wies ihn auf einen Fußsteig, der grade durch die Wälder führen sollte. Einsam schritt er nun zwischen die Berge hinein; wie so anders, dachte er, als ich vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun ist es Schlafenszeit, und alles ist vorüber. -- Die schlei¬ chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten Nacht und Anstrengung neu geschürt, brach und reckte und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte öfters rasten, und verließ endlich vor Ermüdung den Fußsteig, um, wo möglich, ein Dorf zu erlangen. Aber kein Haus wollte sich zeigen, es war so still den Wald entlang, daß man die Spechte picken hörte. So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬ kelte schon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm immer fremder, je weiter er fortging.
Da erblickte er seitwärts ein kleines Mädchen, das im Walde Blumen pflückte. Als er hinzutrat, wandte sie sich schnell herum, es war ihm plötzlich vor den klaren, unschuldigen Augen wie in den Himmels¬ grund zu sehen. Die Abendsonne schimmerte durch die blonden Locken, er streichelte und küßt' es herzlich auf die blanke Stirn.
Das schien dem armen Kinde selten zu begegnen, es suchte emsig in seiner Schürze und reichte ihm eine wilde weiße Rose, und als er fragte, ob es ihm den Weg aus dem Walde weisen könne, gab es ihm ver¬ traulich die Hand, während es mit der andern sorg¬
wies ihn auf einen Fußſteig, der grade durch die Waͤlder fuͤhren ſollte. Einſam ſchritt er nun zwiſchen die Berge hinein; wie ſo anders, dachte er, als ich vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun iſt es Schlafenszeit, und alles iſt voruͤber. — Die ſchlei¬ chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten Nacht und Anſtrengung neu geſchuͤrt, brach und reckte und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte oͤfters raſten, und verließ endlich vor Ermuͤdung den Fußſteig, um, wo moͤglich, ein Dorf zu erlangen. Aber kein Haus wollte ſich zeigen, es war ſo ſtill den Wald entlang, daß man die Spechte picken hoͤrte. So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬ kelte ſchon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm immer fremder, je weiter er fortging.
Da erblickte er ſeitwaͤrts ein kleines Maͤdchen, das im Walde Blumen pfluͤckte. Als er hinzutrat, wandte ſie ſich ſchnell herum, es war ihm ploͤtzlich vor den klaren, unſchuldigen Augen wie in den Himmels¬ grund zu ſehen. Die Abendſonne ſchimmerte durch die blonden Locken, er ſtreichelte und kuͤßt' es herzlich auf die blanke Stirn.
Das ſchien dem armen Kinde ſelten zu begegnen, es ſuchte emſig in ſeiner Schuͤrze und reichte ihm eine wilde weiße Roſe, und als er fragte, ob es ihm den Weg aus dem Walde weiſen koͤnne, gab es ihm ver¬ traulich die Hand, waͤhrend es mit der andern ſorg¬
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wies ihn auf einen Fußſteig, der grade durch die
Waͤlder fuͤhren ſollte. Einſam ſchritt er nun zwiſchen
die Berge hinein; wie ſo anders, dachte er, als ich
vor vielen Jahren hier auswanderte! Nun iſt es
Schlafenszeit, und alles iſt voruͤber. — Die ſchlei¬
chende Gewalt der Krankheit, von der durchwachten
Nacht und Anſtrengung neu geſchuͤrt, brach und reckte
und dehnte ihn heimlich in allen Gliedern, er mußte
oͤfters raſten, und verließ endlich vor Ermuͤdung den
Fußſteig, um, wo moͤglich, ein Dorf zu erlangen.
Aber kein Haus wollte ſich zeigen, es war ſo ſtill den
Wald entlang, daß man die Spechte picken hoͤrte.
So hatte er Zeit und Weg verloren; der Abend fun¬
kelte ſchon durch die Wipfel, die Gegend wurde ihm
immer fremder, je weiter er fortging.
Da erblickte er ſeitwaͤrts ein kleines Maͤdchen,
das im Walde Blumen pfluͤckte. Als er hinzutrat,
wandte ſie ſich ſchnell herum, es war ihm ploͤtzlich vor
den klaren, unſchuldigen Augen wie in den Himmels¬
grund zu ſehen. Die Abendſonne ſchimmerte durch
die blonden Locken, er ſtreichelte und kuͤßt' es herzlich
auf die blanke Stirn.
Das ſchien dem armen Kinde ſelten zu begegnen,
es ſuchte emſig in ſeiner Schuͤrze und reichte ihm eine
wilde weiße Roſe, und als er fragte, ob es ihm den
Weg aus dem Walde weiſen koͤnne, gab es ihm ver¬
traulich die Hand, waͤhrend es mit der andern ſorg¬
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Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/329>, abgerufen am 25.11.2024.
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