während ich oft Stundenlang an den eisernen Stä¬ ben des Gartenthors stehe, das an die Strasse stößt, und sehe, wie draussen der Sonnenschein wech¬ selnd über Wälder und Wiesen fliegt, und Wa¬ gen, Reuter und Fußgänger am Thore vorüber in die glänzende Ferne hinausziehen. Diese ganze stil¬ le Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der seitdem durchlebten Tage, wie ein uraltes, wehemü¬ thig süßes Lied, und wenn mich oft nur ein einzel¬ ner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein un¬ beschreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gär¬ ten und Bergen, sondern nach einer viel ferneren und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein lieblicher Wiederschein zu seyn scheint. Ach, warum müssen wir jene unschuldige Betrachtung der Welt, jene wundervolle Sehnsucht, jenen geheimnißvollen, unbeschreiblichen Schimmer der Natur verlieren, in dem wir nur manchmal noch im Traume unbekann¬ te, seltsame Gegenden wieder sehen!
Und wie war es denn nun weiter? fiel ihm Rosa ins Wort.
Meinen Vater und meine Mutter, fuhr Frie¬ drich fort, habe ich niemals gesehen. Ich lebte auf dem Schlosse eines Vormunds. Aber eines äl¬ teren Bruders erinnere ich mich sehr deutlich. Er war schön, wild, witzig, keck und dabey störrisch, tiefsinnig und menschenscheu. Dein Bruder Leontin sieht ihm sehr ähnlich und ist mir darum um desto theurer. Am besten kann ich mir ihn vorstellen, wenn ich an einen Umstand zurückdenke. An unserm
während ich oft Stundenlang an den eiſernen Stä¬ ben des Gartenthors ſtehe, das an die Straſſe ſtößt, und ſehe, wie drauſſen der Sonnenſchein wech¬ ſelnd über Wälder und Wieſen fliegt, und Wa¬ gen, Reuter und Fußgänger am Thore vorüber in die glänzende Ferne hinausziehen. Dieſe ganze ſtil¬ le Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der ſeitdem durchlebten Tage, wie ein uraltes, wehemü¬ thig ſüßes Lied, und wenn mich oft nur ein einzel¬ ner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein un¬ beſchreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gär¬ ten und Bergen, ſondern nach einer viel ferneren und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein lieblicher Wiederſchein zu ſeyn ſcheint. Ach, warum müſſen wir jene unſchuldige Betrachtung der Welt, jene wundervolle Sehnſucht, jenen geheimnißvollen, unbeſchreiblichen Schimmer der Natur verlieren, in dem wir nur manchmal noch im Traume unbekann¬ te, ſeltſame Gegenden wieder ſehen!
Und wie war es denn nun weiter? fiel ihm Roſa ins Wort.
Meinen Vater und meine Mutter, fuhr Frie¬ drich fort, habe ich niemals geſehen. Ich lebte auf dem Schloſſe eines Vormunds. Aber eines äl¬ teren Bruders erinnere ich mich ſehr deutlich. Er war ſchön, wild, witzig, keck und dabey ſtörriſch, tiefſinnig und menſchenſcheu. Dein Bruder Leontin ſieht ihm ſehr ähnlich und iſt mir darum um deſto theurer. Am beſten kann ich mir ihn vorſtellen, wenn ich an einen Umſtand zurückdenke. An unſerm
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während ich oft Stundenlang an den eiſernen Stä¬
ben des Gartenthors ſtehe, das an die Straſſe
ſtößt, und ſehe, wie drauſſen der Sonnenſchein wech¬
ſelnd über Wälder und Wieſen fliegt, und Wa¬
gen, Reuter und Fußgänger am Thore vorüber in
die glänzende Ferne hinausziehen. Dieſe ganze ſtil¬
le Zeit liegt weit hinter alle dem Schwalle der
ſeitdem durchlebten Tage, wie ein uraltes, wehemü¬
thig ſüßes Lied, und wenn mich oft nur ein einzel¬
ner Ton davon wieder berührt, faßt mich ein un¬
beſchreibliches Heimweh, nicht nur nach jenen Gär¬
ten und Bergen, ſondern nach einer viel ferneren
und tieferen Heimath, von welcher jene nur ein
lieblicher Wiederſchein zu ſeyn ſcheint. Ach, warum
müſſen wir jene unſchuldige Betrachtung der Welt,
jene wundervolle Sehnſucht, jenen geheimnißvollen,
unbeſchreiblichen Schimmer der Natur verlieren, in
dem wir nur manchmal noch im Traume unbekann¬
te, ſeltſame Gegenden wieder ſehen!
Und wie war es denn nun weiter? fiel ihm
Roſa ins Wort.
Meinen Vater und meine Mutter, fuhr Frie¬
drich fort, habe ich niemals geſehen. Ich lebte
auf dem Schloſſe eines Vormunds. Aber eines äl¬
teren Bruders erinnere ich mich ſehr deutlich. Er
war ſchön, wild, witzig, keck und dabey ſtörriſch,
tiefſinnig und menſchenſcheu. Dein Bruder Leontin
ſieht ihm ſehr ähnlich und iſt mir darum um deſto
theurer. Am beſten kann ich mir ihn vorſtellen,
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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/76>, abgerufen am 26.11.2024.
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