Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite
Da mocht' ich länger nicht nach Euch mehr fragen,
Der Wald empfieng, wie rauschend! den Entfloh'¬
nen,
In Burgen alt, an Stromeskühle wohnen,
Wollt' ich auf Bergen bey den alten Sagen.
Da hört' ich Strom und Wald dort so mich tadeln:
"Was willst, Lebend'ger du, hier über'm Leben,
Einsam verwildernd in den eignen Tönen?
Es soll im Kampf der rechte Schmerz sich adeln,
Den deutschen Ruhm aus der Verwüstung heben,
Das will der alte Gott von seinen Söhnen!"

Friedrich sagte: Es ist sehr wahr, wovon Ihr
Sonett da spricht, und doch billige ich Leontins
Plan vollkommen. Denn wer, von Natur unge¬
stümm, sich berufen fühlt, in das Räderwerk des
Weltganges unmittelbar mit einzugreifen, der
mag von hier flüchten so weit er kann. Es ist noch
nicht an der Zeit zu bauen, so lange die Backstei¬
ne, noch weich und unreif, unter den Händen zer¬
fließen. Mir scheint in diesem Elend, wie immer,
keine andere Hülfe, als die Religion. Denn wo
ist in dem Schwalle von Poesie, Andacht, Deutsch¬
heit, Tugend und Vaterländerey, die jetzt, wie bey
der babylonischen Sprachverwirrung, schwankend hin
und hersummen, ein sicherer Mittelpunkt, aus wel¬
chem alles dieses zu einem klaren Verständniß, zu
einem lebendigen Ganzen gelangen könnte? Wenn
das Geschlecht vor der Hand einmal alle seine irdi¬
schen Sorgen, Mühen und fruchtlosen Versuche,

30
Da mocht' ich länger nicht nach Euch mehr fragen,
Der Wald empfieng, wie rauſchend! den Entfloh'¬
nen,
In Burgen alt, an Stromeskühle wohnen,
Wollt' ich auf Bergen bey den alten Sagen.
Da hört' ich Strom und Wald dort ſo mich tadeln:
„Was willſt, Lebend'ger du, hier über'm Leben,
Einſam verwildernd in den eignen Tönen?
Es ſoll im Kampf der rechte Schmerz ſich adeln,
Den deutſchen Ruhm aus der Verwüſtung heben,
Das will der alte Gott von ſeinen Söhnen!“

Friedrich ſagte: Es iſt ſehr wahr, wovon Ihr
Sonett da ſpricht, und doch billige ich Leontins
Plan vollkommen. Denn wer, von Natur unge¬
ſtümm, ſich berufen fühlt, in das Räderwerk des
Weltganges unmittelbar mit einzugreifen, der
mag von hier flüchten ſo weit er kann. Es iſt noch
nicht an der Zeit zu bauen, ſo lange die Backſtei¬
ne, noch weich und unreif, unter den Händen zer¬
fließen. Mir ſcheint in dieſem Elend, wie immer,
keine andere Hülfe, als die Religion. Denn wo
iſt in dem Schwalle von Poeſie, Andacht, Deutſch¬
heit, Tugend und Vaterländerey, die jetzt, wie bey
der babyloniſchen Sprachverwirrung, ſchwankend hin
und herſummen, ein ſicherer Mittelpunkt, aus wel¬
chem alles dieſes zu einem klaren Verſtändniß, zu
einem lebendigen Ganzen gelangen könnte? Wenn
das Geſchlecht vor der Hand einmal alle ſeine irdi¬
ſchen Sorgen, Mühen und fruchtloſen Verſuche,

30
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0471" n="465"/>
            <lg n="2">
              <l>Da mocht' ich länger nicht nach Euch mehr fragen,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Der Wald empfieng, wie rau&#x017F;chend! den Entfloh'¬<lb/><hi rendition="#et">nen,</hi></l><lb/>
              <l rendition="#et">In Burgen alt, an Stromeskühle wohnen,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Wollt' ich auf Bergen bey den alten Sagen.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Da hört' ich Strom und Wald dort <hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> mich tadeln:</l><lb/>
              <l rendition="#et">&#x201E;Was will&#x017F;t, Lebend'ger du, hier über'm Leben,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Ein&#x017F;am verwildernd in den eignen Tönen?</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Es &#x017F;oll im Kampf der rechte Schmerz &#x017F;ich adeln,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Den deut&#x017F;chen Ruhm aus der Verwü&#x017F;tung heben,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Das will der alte Gott von &#x017F;einen Söhnen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <p>Friedrich &#x017F;agte: Es i&#x017F;t &#x017F;ehr wahr, wovon Ihr<lb/>
Sonett da &#x017F;pricht, und doch billige ich Leontins<lb/>
Plan vollkommen. Denn wer, von Natur unge¬<lb/>
&#x017F;tümm, &#x017F;ich berufen fühlt, in das Räderwerk des<lb/>
Weltganges <hi rendition="#g">unmittelbar</hi> mit einzugreifen, der<lb/>
mag von hier flüchten &#x017F;o weit er kann. Es i&#x017F;t noch<lb/>
nicht an der Zeit zu bauen, &#x017F;o lange die Back&#x017F;tei¬<lb/>
ne, noch weich und unreif, unter den Händen zer¬<lb/>
fließen. Mir &#x017F;cheint in die&#x017F;em Elend, wie immer,<lb/>
keine andere Hülfe, als die <hi rendition="#g">Religion</hi>. Denn wo<lb/>
i&#x017F;t in dem Schwalle von Poe&#x017F;ie, Andacht, Deut&#x017F;ch¬<lb/>
heit, Tugend und Vaterländerey, die jetzt, wie bey<lb/>
der babyloni&#x017F;chen Sprachverwirrung, &#x017F;chwankend hin<lb/>
und her&#x017F;ummen, ein &#x017F;icherer Mittelpunkt, aus wel¬<lb/>
chem alles die&#x017F;es zu einem klaren Ver&#x017F;tändniß, zu<lb/>
einem lebendigen Ganzen gelangen könnte? Wenn<lb/>
das Ge&#x017F;chlecht vor der Hand einmal alle &#x017F;eine irdi¬<lb/>
&#x017F;chen Sorgen, Mühen und fruchtlo&#x017F;en Ver&#x017F;uche,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">30<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0471] Da mocht' ich länger nicht nach Euch mehr fragen, Der Wald empfieng, wie rauſchend! den Entfloh'¬ nen, In Burgen alt, an Stromeskühle wohnen, Wollt' ich auf Bergen bey den alten Sagen. Da hört' ich Strom und Wald dort ſo mich tadeln: „Was willſt, Lebend'ger du, hier über'm Leben, Einſam verwildernd in den eignen Tönen? Es ſoll im Kampf der rechte Schmerz ſich adeln, Den deutſchen Ruhm aus der Verwüſtung heben, Das will der alte Gott von ſeinen Söhnen!“ Friedrich ſagte: Es iſt ſehr wahr, wovon Ihr Sonett da ſpricht, und doch billige ich Leontins Plan vollkommen. Denn wer, von Natur unge¬ ſtümm, ſich berufen fühlt, in das Räderwerk des Weltganges unmittelbar mit einzugreifen, der mag von hier flüchten ſo weit er kann. Es iſt noch nicht an der Zeit zu bauen, ſo lange die Backſtei¬ ne, noch weich und unreif, unter den Händen zer¬ fließen. Mir ſcheint in dieſem Elend, wie immer, keine andere Hülfe, als die Religion. Denn wo iſt in dem Schwalle von Poeſie, Andacht, Deutſch¬ heit, Tugend und Vaterländerey, die jetzt, wie bey der babyloniſchen Sprachverwirrung, ſchwankend hin und herſummen, ein ſicherer Mittelpunkt, aus wel¬ chem alles dieſes zu einem klaren Verſtändniß, zu einem lebendigen Ganzen gelangen könnte? Wenn das Geſchlecht vor der Hand einmal alle ſeine irdi¬ ſchen Sorgen, Mühen und fruchtloſen Verſuche, 30

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/471
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/471>, abgerufen am 09.11.2024.