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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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zählte, was er von der alten Mutter der Verschie¬
denen gehört: wie das Mädchen anfangs nach der
Ohnmacht in allen Kirchen herumgezogen und Gott
innbrünstig gebeten, daß Er sie doch noch einmal
glücklich in der Welt machen möchte. -- Nach und
nach aber fieng sie an zu kränkeln und wurde me¬
lankolisch. Sie sprach sehr zuversichtlich, daß sie
bald sterben würde, und von einer großen Sünde,
die sie abzubüßen hätte, und fragte die Mutter oft
ängstlich, ob sie denn noch in den Himmel kommen
könnte? Den Prinzen wollte sie noch immer nicht
wiedersehen. Die letzten Tage vor ihrem Tode wur¬
de sie merklich besser und heiter. Noch den letzten
Tag kam sie sehr fröhlich nach Hause und sagte mit
leuchtenden Augen, sie habe den Prinzen wiederge¬
sehen; er sey, ohne sie zu bemerken, an ihr vor¬
beygeritten. Den Abend darauf starb sie. -- Der
Prinz zog hiebey ein Papier heraus und las Frie¬
drich'n ein Todtenopfer vor, welches er heute in ei¬
ner Reihe von Sonetten auf den Tod des Mäd¬
chens gedichtet hatte. Die ersten Sonetten enthielten
eine wunderfeine Beschreibung, wie der Prinz das
Mädchen verführt. Friedrich'n graute, wie schön
sich da die Sünde ausnahm. Das letzte Sonett
schloß:

Einsiedler will ich seyn und einsam stehen,
Nicht klagen, weinen, sondern büßend beten,
Du bitt' für mich dort, daß ich besser werde!
Nur einmal, schönes Bild, laß Dich mir sehen,
Nachts, wenn all' Bilder weit zurücketreten,
Und nimm' mich mit Dir von der dunklen Erde!"

zählte, was er von der alten Mutter der Verſchie¬
denen gehört: wie das Mädchen anfangs nach der
Ohnmacht in allen Kirchen herumgezogen und Gott
innbrünſtig gebeten, daß Er ſie doch noch einmal
glücklich in der Welt machen möchte. — Nach und
nach aber fieng ſie an zu kränkeln und wurde me¬
lankoliſch. Sie ſprach ſehr zuverſichtlich, daß ſie
bald ſterben würde, und von einer großen Sünde,
die ſie abzubüßen hätte, und fragte die Mutter oft
ängſtlich, ob ſie denn noch in den Himmel kommen
könnte? Den Prinzen wollte ſie noch immer nicht
wiederſehen. Die letzten Tage vor ihrem Tode wur¬
de ſie merklich beſſer und heiter. Noch den letzten
Tag kam ſie ſehr fröhlich nach Hauſe und ſagte mit
leuchtenden Augen, ſie habe den Prinzen wiederge¬
ſehen; er ſey, ohne ſie zu bemerken, an ihr vor¬
beygeritten. Den Abend darauf ſtarb ſie. — Der
Prinz zog hiebey ein Papier heraus und las Frie¬
drich'n ein Todtenopfer vor, welches er heute in ei¬
ner Reihe von Sonetten auf den Tod des Mäd¬
chens gedichtet hatte. Die erſten Sonetten enthielten
eine wunderfeine Beſchreibung, wie der Prinz das
Mädchen verführt. Friedrich'n graute, wie ſchön
ſich da die Sünde ausnahm. Das letzte Sonett
ſchloß:

Einſiedler will ich ſeyn und einſam ſtehen,
Nicht klagen, weinen, ſondern büßend beten,
Du bitt' für mich dort, daß ich beſſer werde!
Nur einmal, ſchönes Bild, laß Dich mir ſehen,
Nachts, wenn all' Bilder weit zurücketreten,
Und nimm' mich mit Dir von der dunklen Erde!“
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[303/0309] zählte, was er von der alten Mutter der Verſchie¬ denen gehört: wie das Mädchen anfangs nach der Ohnmacht in allen Kirchen herumgezogen und Gott innbrünſtig gebeten, daß Er ſie doch noch einmal glücklich in der Welt machen möchte. — Nach und nach aber fieng ſie an zu kränkeln und wurde me¬ lankoliſch. Sie ſprach ſehr zuverſichtlich, daß ſie bald ſterben würde, und von einer großen Sünde, die ſie abzubüßen hätte, und fragte die Mutter oft ängſtlich, ob ſie denn noch in den Himmel kommen könnte? Den Prinzen wollte ſie noch immer nicht wiederſehen. Die letzten Tage vor ihrem Tode wur¬ de ſie merklich beſſer und heiter. Noch den letzten Tag kam ſie ſehr fröhlich nach Hauſe und ſagte mit leuchtenden Augen, ſie habe den Prinzen wiederge¬ ſehen; er ſey, ohne ſie zu bemerken, an ihr vor¬ beygeritten. Den Abend darauf ſtarb ſie. — Der Prinz zog hiebey ein Papier heraus und las Frie¬ drich'n ein Todtenopfer vor, welches er heute in ei¬ ner Reihe von Sonetten auf den Tod des Mäd¬ chens gedichtet hatte. Die erſten Sonetten enthielten eine wunderfeine Beſchreibung, wie der Prinz das Mädchen verführt. Friedrich'n graute, wie ſchön ſich da die Sünde ausnahm. Das letzte Sonett ſchloß: Einſiedler will ich ſeyn und einſam ſtehen, Nicht klagen, weinen, ſondern büßend beten, Du bitt' für mich dort, daß ich beſſer werde! Nur einmal, ſchönes Bild, laß Dich mir ſehen, Nachts, wenn all' Bilder weit zurücketreten, Und nimm' mich mit Dir von der dunklen Erde!“

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/309>, abgerufen am 21.05.2024.