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[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.

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beanlagt im höchsten Sinne des Wortes ist natürlich der schöpferische Tondichter. Musikalisch beanlagt aber ist auch der Interpret dieses Tondichters, der vielleicht absolut unschöpferische Virtuose, und nächst ihm der verständnisvoll ausübende Dilettant. Musikalisch beanlagt ist endlich der Zuhörer, der die Vorzüge der Tonschöpfung wie der Interpretation genügend zu würdigen weiß. Man kann jedoch dieses Zuhörertalent in vollstem Maße besitzen, ohne sich für die Erlernung eines musikalischen Instrumentes zu eignen. Gerade auf dem Gebiete der passiven musikalischen Beanlagung gibt es ganz eigenthümliche Varianten. Ich kenne Persönlichkeiten, die mit einem sehr vornehmen musikalischen Geschmack begabt sind, ohne ein sonderlich ausgeprägtes, musikalisches Gehör zu besitzen. Andre hinwider mit brillantem Gehör leiden an einer bedauerlichen Trivialität des Geschmacks. Sehr weit verbreitet ist ferner die Gattung Derer, bei denen die Schärfe des musikalischen Gehörs ganz und gar nicht parallel geht mit der Befähigung, das Gehörte wiederzugeben. Die Meisten, die nach Art des oben erwähnten Akademikers von dem trällernden oder pfeifenden Schusterjungen beschämt werden, gehören in diese Kategorie: sie haben ganz richtig gehört und aufgefaßt, aber sie können das Aufgefaßte nicht wiedergeben. Daß hier nicht etwa ein Defekt des musikalischen Gedächtnisses vorliegt, sondern der Mangel einer ganz specifischen, nicht näher zu definirenden Reproduktionsgabe, wird sofort klar, wenn man bedenkt, daß diese Unfähigkeit den damit Behafteten keineswegs hindert, tausende von Melodieen und Motiven scharf auseinander zu halten, sie nach Jahrzehnten wieder zu erkennen und jeden Mißgriff des Vortragenden heraus zu empfinden. Man sieht, wie verschiedenartige Momente

beanlagt im höchsten Sinne des Wortes ist natürlich der schöpferische Tondichter. Musikalisch beanlagt aber ist auch der Interpret dieses Tondichters, der vielleicht absolut unschöpferische Virtuose, und nächst ihm der verständnisvoll ausübende Dilettant. Musikalisch beanlagt ist endlich der Zuhörer, der die Vorzüge der Tonschöpfung wie der Interpretation genügend zu würdigen weiß. Man kann jedoch dieses Zuhörertalent in vollstem Maße besitzen, ohne sich für die Erlernung eines musikalischen Instrumentes zu eignen. Gerade auf dem Gebiete der passiven musikalischen Beanlagung gibt es ganz eigenthümliche Varianten. Ich kenne Persönlichkeiten, die mit einem sehr vornehmen musikalischen Geschmack begabt sind, ohne ein sonderlich ausgeprägtes, musikalisches Gehör zu besitzen. Andre hinwider mit brillantem Gehör leiden an einer bedauerlichen Trivialität des Geschmacks. Sehr weit verbreitet ist ferner die Gattung Derer, bei denen die Schärfe des musikalischen Gehörs ganz und gar nicht parallel geht mit der Befähigung, das Gehörte wiederzugeben. Die Meisten, die nach Art des oben erwähnten Akademikers von dem trällernden oder pfeifenden Schusterjungen beschämt werden, gehören in diese Kategorie: sie haben ganz richtig gehört und aufgefaßt, aber sie können das Aufgefaßte nicht wiedergeben. Daß hier nicht etwa ein Defekt des musikalischen Gedächtnisses vorliegt, sondern der Mangel einer ganz specifischen, nicht näher zu definirenden Reproduktionsgabe, wird sofort klar, wenn man bedenkt, daß diese Unfähigkeit den damit Behafteten keineswegs hindert, tausende von Melodieen und Motiven scharf auseinander zu halten, sie nach Jahrzehnten wieder zu erkennen und jeden Mißgriff des Vortragenden heraus zu empfinden. Man sieht, wie verschiedenartige Momente

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beanlagt im höchsten Sinne des Wortes ist natürlich der schöpferische Tondichter. Musikalisch beanlagt aber ist auch der Interpret dieses Tondichters, der vielleicht absolut unschöpferische Virtuose, und nächst ihm der verständnisvoll ausübende Dilettant. Musikalisch beanlagt ist endlich der Zuhörer, der die Vorzüge der Tonschöpfung wie der Interpretation genügend zu würdigen weiß. Man kann jedoch dieses Zuhörertalent in vollstem Maße besitzen, ohne sich für die Erlernung eines musikalischen Instrumentes zu eignen. Gerade auf dem Gebiete der passiven musikalischen Beanlagung gibt es ganz eigenthümliche Varianten. Ich kenne Persönlichkeiten, die mit einem sehr vornehmen musikalischen Geschmack begabt sind, ohne ein sonderlich ausgeprägtes, musikalisches Gehör zu besitzen. Andre hinwider mit brillantem Gehör leiden an einer bedauerlichen Trivialität des Geschmacks. Sehr weit verbreitet ist ferner die Gattung Derer, bei denen die Schärfe des musikalischen Gehörs ganz und gar nicht parallel geht mit der Befähigung, das Gehörte wiederzugeben. Die Meisten, die nach Art des oben erwähnten Akademikers von dem trällernden oder pfeifenden Schusterjungen beschämt werden, gehören in diese Kategorie: sie haben ganz richtig gehört und aufgefaßt, aber sie können das Aufgefaßte nicht wiedergeben. Daß hier nicht etwa ein Defekt des musikalischen Gedächtnisses vorliegt, sondern der Mangel einer ganz specifischen, nicht näher zu definirenden Reproduktionsgabe, wird sofort klar, wenn man bedenkt, daß diese Unfähigkeit den damit Behafteten keineswegs hindert, tausende von Melodieen und Motiven scharf auseinander zu halten, sie nach Jahrzehnten wieder zu erkennen und jeden Mißgriff des Vortragenden heraus zu empfinden. Man sieht, wie verschiedenartige Momente
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[56/0058] beanlagt im höchsten Sinne des Wortes ist natürlich der schöpferische Tondichter. Musikalisch beanlagt aber ist auch der Interpret dieses Tondichters, der vielleicht absolut unschöpferische Virtuose, und nächst ihm der verständnisvoll ausübende Dilettant. Musikalisch beanlagt ist endlich der Zuhörer, der die Vorzüge der Tonschöpfung wie der Interpretation genügend zu würdigen weiß. Man kann jedoch dieses Zuhörertalent in vollstem Maße besitzen, ohne sich für die Erlernung eines musikalischen Instrumentes zu eignen. Gerade auf dem Gebiete der passiven musikalischen Beanlagung gibt es ganz eigenthümliche Varianten. Ich kenne Persönlichkeiten, die mit einem sehr vornehmen musikalischen Geschmack begabt sind, ohne ein sonderlich ausgeprägtes, musikalisches Gehör zu besitzen. Andre hinwider mit brillantem Gehör leiden an einer bedauerlichen Trivialität des Geschmacks. Sehr weit verbreitet ist ferner die Gattung Derer, bei denen die Schärfe des musikalischen Gehörs ganz und gar nicht parallel geht mit der Befähigung, das Gehörte wiederzugeben. Die Meisten, die nach Art des oben erwähnten Akademikers von dem trällernden oder pfeifenden Schusterjungen beschämt werden, gehören in diese Kategorie: sie haben ganz richtig gehört und aufgefaßt, aber sie können das Aufgefaßte nicht wiedergeben. Daß hier nicht etwa ein Defekt des musikalischen Gedächtnisses vorliegt, sondern der Mangel einer ganz specifischen, nicht näher zu definirenden Reproduktionsgabe, wird sofort klar, wenn man bedenkt, daß diese Unfähigkeit den damit Behafteten keineswegs hindert, tausende von Melodieen und Motiven scharf auseinander zu halten, sie nach Jahrzehnten wieder zu erkennen und jeden Mißgriff des Vortragenden heraus zu empfinden. Man sieht, wie verschiedenartige Momente

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Zitationshilfe: [Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckstein_dudler_1893/58>, abgerufen am 04.05.2024.