[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.Aus dieser Erwägung sollte sich eine ähnliche Toleranz entwickeln, wie aus der unbefangnen Betrachtung der verschiedenen Religionssysteme und ihrer begeisternden Wirkungen auf den Gläubigen. Jeder meint den echten Ring zu besitzen, denn er findet in seinem Besitz jene Befriedigung, die er als Bürgschaft der Echtheit auffaßt. Das gilt von den Frauen wie von den Glaubenssystemen; das gilt vom Sittlichkeits-Ideal wie vom Schönheits-Ideal. Wir sind scheinbar von unserm Thema abgeschweift und stehen doch thatsächlich mitten darin. Auch die Musik, soweit sie Ideen und Anschauungen überhaupt zu verkörpern im Stande ist, verkörpert doch nur die Ideen und Anschauungen der Zeit, der vergänglichen, rasch dahinflutenden Geistesbrandung. Je weniger sie mit der Darstellung des Leiblichen sich zu befassen hat, desto wandelbarer und flüchtiger sind ihre Formen: denn die Entwickelungs-Processe intellektueller Art vollziehen sich rascher als die eigentlich biologischen. Unsre Skizze hat sich bis jetzt mit der rein theoretischen Anmaßung der Musik auseinandergesetzt. Diese Anmaßung ist in mehr als einer Beziehung töricht und irreleitend; sie schädigt die freie Entfaltung der Schwesterkünste; sie unterwühlt die Grundpfeiler einer gerechten und sachgemäßen Aesthetik. Immerhin läßt sie mit einiger Philosophie sich ertragen. Eine conventionelle Rücksichtslosigkeit unerträglicher Art ergibt sich dagegen auf dem Gebiete der musikalischen Praxis. Wenn sich ein Mensch einfallen lassen wollte, unmittelbar vor dem Fenster meines Arbeitsgemachs eine Esse zu construiren, die mir zu jeder beliebigen Tageszeit Qualm und Ruß wider die Scheiben jagte, so würde es nur eines Winkes bedürfen, um diesem ungebührlichen Essenmann das Handwerk Aus dieser Erwägung sollte sich eine ähnliche Toleranz entwickeln, wie aus der unbefangnen Betrachtung der verschiedenen Religionssysteme und ihrer begeisternden Wirkungen auf den Gläubigen. Jeder meint den echten Ring zu besitzen, denn er findet in seinem Besitz jene Befriedigung, die er als Bürgschaft der Echtheit auffaßt. Das gilt von den Frauen wie von den Glaubenssystemen; das gilt vom Sittlichkeits-Ideal wie vom Schönheits-Ideal. Wir sind scheinbar von unserm Thema abgeschweift und stehen doch thatsächlich mitten darin. Auch die Musik, soweit sie Ideen und Anschauungen überhaupt zu verkörpern im Stande ist, verkörpert doch nur die Ideen und Anschauungen der Zeit, der vergänglichen, rasch dahinflutenden Geistesbrandung. Je weniger sie mit der Darstellung des Leiblichen sich zu befassen hat, desto wandelbarer und flüchtiger sind ihre Formen: denn die Entwickelungs-Processe intellektueller Art vollziehen sich rascher als die eigentlich biologischen. Unsre Skizze hat sich bis jetzt mit der rein theoretischen Anmaßung der Musik auseinandergesetzt. Diese Anmaßung ist in mehr als einer Beziehung töricht und irreleitend; sie schädigt die freie Entfaltung der Schwesterkünste; sie unterwühlt die Grundpfeiler einer gerechten und sachgemäßen Aesthetik. Immerhin läßt sie mit einiger Philosophie sich ertragen. Eine conventionelle Rücksichtslosigkeit unerträglicher Art ergibt sich dagegen auf dem Gebiete der musikalischen Praxis. Wenn sich ein Mensch einfallen lassen wollte, unmittelbar vor dem Fenster meines Arbeitsgemachs eine Esse zu construiren, die mir zu jeder beliebigen Tageszeit Qualm und Ruß wider die Scheiben jagte, so würde es nur eines Winkes bedürfen, um diesem ungebührlichen Essenmann das Handwerk <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0044" n="42"/> <p>Aus dieser Erwägung sollte sich eine ähnliche Toleranz entwickeln, wie aus der unbefangnen Betrachtung der verschiedenen Religionssysteme und ihrer begeisternden Wirkungen auf den Gläubigen. Jeder meint den echten Ring zu besitzen, denn er findet in seinem Besitz jene Befriedigung, die er als Bürgschaft der Echtheit auffaßt. Das gilt von den Frauen wie von den Glaubenssystemen; das gilt vom Sittlichkeits-Ideal wie vom Schönheits-Ideal.</p> <p>Wir sind scheinbar von unserm Thema abgeschweift und stehen doch thatsächlich mitten darin. 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Eine conventionelle Rücksichtslosigkeit unerträglicher Art ergibt sich dagegen auf dem Gebiete der musikalischen Praxis.</p> <p>Wenn sich ein Mensch einfallen lassen wollte, unmittelbar vor dem Fenster meines Arbeitsgemachs eine Esse zu construiren, die mir zu jeder beliebigen Tageszeit Qualm und Ruß wider die Scheiben jagte, so würde es nur eines Winkes bedürfen, um diesem ungebührlichen Essenmann das Handwerk </p> </div> </body> </text> </TEI> [42/0044]
Aus dieser Erwägung sollte sich eine ähnliche Toleranz entwickeln, wie aus der unbefangnen Betrachtung der verschiedenen Religionssysteme und ihrer begeisternden Wirkungen auf den Gläubigen. Jeder meint den echten Ring zu besitzen, denn er findet in seinem Besitz jene Befriedigung, die er als Bürgschaft der Echtheit auffaßt. Das gilt von den Frauen wie von den Glaubenssystemen; das gilt vom Sittlichkeits-Ideal wie vom Schönheits-Ideal.
Wir sind scheinbar von unserm Thema abgeschweift und stehen doch thatsächlich mitten darin. Auch die Musik, soweit sie Ideen und Anschauungen überhaupt zu verkörpern im Stande ist, verkörpert doch nur die Ideen und Anschauungen der Zeit, der vergänglichen, rasch dahinflutenden Geistesbrandung. Je weniger sie mit der Darstellung des Leiblichen sich zu befassen hat, desto wandelbarer und flüchtiger sind ihre Formen: denn die Entwickelungs-Processe intellektueller Art vollziehen sich rascher als die eigentlich biologischen.
Unsre Skizze hat sich bis jetzt mit der rein theoretischen Anmaßung der Musik auseinandergesetzt. Diese Anmaßung ist in mehr als einer Beziehung töricht und irreleitend; sie schädigt die freie Entfaltung der Schwesterkünste; sie unterwühlt die Grundpfeiler einer gerechten und sachgemäßen Aesthetik. Immerhin läßt sie mit einiger Philosophie sich ertragen. Eine conventionelle Rücksichtslosigkeit unerträglicher Art ergibt sich dagegen auf dem Gebiete der musikalischen Praxis.
Wenn sich ein Mensch einfallen lassen wollte, unmittelbar vor dem Fenster meines Arbeitsgemachs eine Esse zu construiren, die mir zu jeder beliebigen Tageszeit Qualm und Ruß wider die Scheiben jagte, so würde es nur eines Winkes bedürfen, um diesem ungebührlichen Essenmann das Handwerk
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Zitationshilfe: | [Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckstein_dudler_1893/44>, abgerufen am 08.07.2024. |