Wir verhandelten über einige Gegenstände der Na¬ turwissenschaft, besonders über die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrthümer und falsche Anschauungen verbreitet würden, die später so leicht nicht wieder zu überwinden wären.
"Die Sache ist ganz einfach diese, sagte Goethe. Alle Sprachen sind aus nahe liegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allge¬ mein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um sei¬ nen eigenthümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da dieses aber nicht ist, so muß er bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn fast überall zu kurz kommt, seinen Gegenstand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet."
Wenn Sie das sagen, erwiederte ich, der Sie doch Ihren Gegenständen jedesmal sehr scharf auf den Leib gehen und, als Feind aller Phrase, für Ihre höheren Wahrnehmungen stets den bezeichnendsten Ausdruck zu finden wissen, so will das etwas heißen. Ich dächte aber, wir Deutschen könnten überhaupt noch allenfalls
Wir verhandelten über einige Gegenſtände der Na¬ turwiſſenſchaft, beſonders über die Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrthümer und falſche Anſchauungen verbreitet würden, die ſpäter ſo leicht nicht wieder zu überwinden wären.
„Die Sache iſt ganz einfach dieſe, ſagte Goethe. Alle Sprachen ſind aus nahe liegenden menſchlichen Bedürfniſſen, menſchlichen Beſchäftigungen und allge¬ mein menſchlichen Empfindungen und Anſchauungen entſtanden. Wenn nun ein höherer Menſch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einſicht gewinnt, ſo reicht ſeine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein ſolches von menſchlichen Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geiſter zu Gebote ſtehen, um ſei¬ nen eigenthümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da dieſes aber nicht iſt, ſo muß er bei ſeiner Anſchauung ungewöhnlicher Naturverhältniſſe ſtets nach menſchlichen Ausdrücken greifen, wobei er denn faſt überall zu kurz kommt, ſeinen Gegenſtand herabzieht oder wohl gar verletzt und vernichtet.“
Wenn Sie das ſagen, erwiederte ich, der Sie doch Ihren Gegenſtänden jedesmal ſehr ſcharf auf den Leib gehen und, als Feind aller Phraſe, für Ihre höheren Wahrnehmungen ſtets den bezeichnendſten Ausdruck zu finden wiſſen, ſo will das etwas heißen. Ich dächte aber, wir Deutſchen könnten überhaupt noch allenfalls
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Wir verhandelten über einige Gegenſtände der Na¬
turwiſſenſchaft, beſonders über die Unvollkommenheit
und Unzulänglichkeit der Sprache, wodurch Irrthümer
und falſche Anſchauungen verbreitet würden, die ſpäter
ſo leicht nicht wieder zu überwinden wären.
„Die Sache iſt ganz einfach dieſe, ſagte Goethe.
Alle Sprachen ſind aus nahe liegenden menſchlichen
Bedürfniſſen, menſchlichen Beſchäftigungen und allge¬
mein menſchlichen Empfindungen und Anſchauungen
entſtanden. Wenn nun ein höherer Menſch über das
geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung
und Einſicht gewinnt, ſo reicht ſeine ihm überlieferte
Sprache nicht hin, um ein ſolches von menſchlichen
Dingen durchaus Fernliegende auszudrücken. Es müßte
ihm die Sprache der Geiſter zu Gebote ſtehen, um ſei¬
nen eigenthümlichen Wahrnehmungen zu genügen. Da
dieſes aber nicht iſt, ſo muß er bei ſeiner Anſchauung
ungewöhnlicher Naturverhältniſſe ſtets nach menſchlichen
Ausdrücken greifen, wobei er denn faſt überall zu kurz
kommt, ſeinen Gegenſtand herabzieht oder wohl gar
verletzt und vernichtet.“
Wenn Sie das ſagen, erwiederte ich, der Sie doch
Ihren Gegenſtänden jedesmal ſehr ſcharf auf den Leib
gehen und, als Feind aller Phraſe, für Ihre höheren
Wahrnehmungen ſtets den bezeichnendſten Ausdruck zu
finden wiſſen, ſo will das etwas heißen. Ich dächte
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/374>, abgerufen am 29.11.2024.
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