Anderen ist sie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als sollte ich den Fremden zum Gegenstand genauer Untersuchung dienen, und als wollten sie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimstes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Gesichtes erspähen. Während sie aber so meine Bekanntschaft zu machen suchen, stören sie alle billige Gleichheit zwischen uns, indem sie mich hindern, zu meiner Entschädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menschen, dem ich bei seinen mündlichen Aeußerungen nicht ins Auge sehen kann und dessen Seelenspiegel durch ein paar Gläser, die mich blenden, verschleiert ist!"
Es hat Jemand bemerken wollen, versetzte ich, daß das Brillentragen die Menschen dünkelhaft mache, in¬ dem die Brille sie auf eine Stufe sinnlicher Vollkom¬ menheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eige¬ nen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt sich die Täu¬ schung bei ihnen einschleiche, daß diese künstliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur sey.
"Die Bemerkung ist sehr artig, erwiederte Goethe, sie scheint von einem Naturforscher herzurühren. Doch genau besehen, ist sie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich so, so müßten ja alle Blinden sehr bescheidene Menschen seyn, dagegen alle mit trefflichen Augen be¬ gabten dünkelhaft. Dieß ist aber durchaus nicht so; vielmehr finden wir, daß alle geistig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgestatteten Menschen in der
Anderen iſt ſie mir fatal. Es kommt mir immer vor, als ſollte ich den Fremden zum Gegenſtand genauer Unterſuchung dienen, und als wollten ſie durch ihre gewaffneten Blicke in mein geheimſtes Innere dringen und jedes Fältchen meines alten Geſichtes erſpähen. Während ſie aber ſo meine Bekanntſchaft zu machen ſuchen, ſtören ſie alle billige Gleichheit zwiſchen uns, indem ſie mich hindern, zu meiner Entſchädigung auch die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem Menſchen, dem ich bei ſeinen mündlichen Aeußerungen nicht ins Auge ſehen kann und deſſen Seelenſpiegel durch ein paar Gläſer, die mich blenden, verſchleiert iſt!“
Es hat Jemand bemerken wollen, verſetzte ich, daß das Brillentragen die Menſchen dünkelhaft mache, in¬ dem die Brille ſie auf eine Stufe ſinnlicher Vollkom¬ menheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eige¬ nen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt ſich die Täu¬ ſchung bei ihnen einſchleiche, daß dieſe künſtliche Höhe die Kraft ihrer eigenen Natur ſey.
„Die Bemerkung iſt ſehr artig, erwiederte Goethe, ſie ſcheint von einem Naturforſcher herzurühren. Doch genau beſehen, iſt ſie nicht haltbar. Denn wäre es wirklich ſo, ſo müßten ja alle Blinden ſehr beſcheidene Menſchen ſeyn, dagegen alle mit trefflichen Augen be¬ gabten dünkelhaft. Dieß iſt aber durchaus nicht ſo; vielmehr finden wir, daß alle geiſtig wie körperlich durchaus naturkräftig ausgeſtatteten Menſchen in der
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Anderen iſt ſie mir fatal. Es kommt mir immer vor,
als ſollte ich den Fremden zum Gegenſtand genauer
Unterſuchung dienen, und als wollten ſie durch ihre
gewaffneten Blicke in mein geheimſtes Innere dringen
und jedes Fältchen meines alten Geſichtes erſpähen.
Während ſie aber ſo meine Bekanntſchaft zu machen
ſuchen, ſtören ſie alle billige Gleichheit zwiſchen uns,
indem ſie mich hindern, zu meiner Entſchädigung auch
die ihrige zu machen. Denn was habe ich von einem
Menſchen, dem ich bei ſeinen mündlichen Aeußerungen
nicht ins Auge ſehen kann und deſſen Seelenſpiegel
durch ein paar Gläſer, die mich blenden, verſchleiert iſt!“
Es hat Jemand bemerken wollen, verſetzte ich, daß
das Brillentragen die Menſchen dünkelhaft mache, in¬
dem die Brille ſie auf eine Stufe ſinnlicher Vollkom¬
menheit hebe, die weit über das Vermögen ihrer eige¬
nen Natur erhaben, wodurch denn zuletzt ſich die Täu¬
ſchung bei ihnen einſchleiche, daß dieſe künſtliche Höhe
die Kraft ihrer eigenen Natur ſey.
„Die Bemerkung iſt ſehr artig, erwiederte Goethe,
ſie ſcheint von einem Naturforſcher herzurühren. Doch
genau beſehen, iſt ſie nicht haltbar. Denn wäre es
wirklich ſo, ſo müßten ja alle Blinden ſehr beſcheidene
Menſchen ſeyn, dagegen alle mit trefflichen Augen be¬
gabten dünkelhaft. Dieß iſt aber durchaus nicht ſo;
vielmehr finden wir, daß alle geiſtig wie körperlich
durchaus naturkräftig ausgeſtatteten Menſchen in der
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/356>, abgerufen am 21.11.2024.
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