doppelte Person zu betrachten. Ich unterscheide Ben¬ tham das Genie, das die Prinzipien ersann, die Dumont der Vergessenheit entzog, indem er sie aus¬ arbeitete, und Bentham den leidenschaftlichen Mann, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die Grenzen seiner eigenen Lehre überschritt und dadurch sowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬ calen ward.
"Das aber, erwiederte Goethe, ist eben ein neues Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines langen Lebens damit beschließen kann, in seinen letzten Tagen noch ein Radicaler zu werden."
Ich suchte diesen Widerspruch zu lösen, indem ich bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit seiner Lehre und seiner Gesetzgebung, und bei der Unmöglichkeit, sie ohne eine völlige Verände¬ rung des herrschenden Systems in England einzuführen, sich um so mehr von seinem leidenschaftlichen Eifer habe fortreißen lassen, als er mit der äußern Welt wenig in Berührung komme und die Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes nicht zu beurtheilen vermöge.
Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬ schaft und mehr Klarheit besitzt, hat die Ueberspannung Bentham's nie gebilligt, und ist weit entfernt gewesen, selber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in
doppelte Perſon zu betrachten. Ich unterſcheide Ben¬ tham das Genie, das die Prinzipien erſann, die Dumont der Vergeſſenheit entzog, indem er ſie aus¬ arbeitete, und Bentham den leidenſchaftlichen Mann, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die Grenzen ſeiner eigenen Lehre überſchritt und dadurch ſowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬ calen ward.
„Das aber, erwiederte Goethe, iſt eben ein neues Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines langen Lebens damit beſchließen kann, in ſeinen letzten Tagen noch ein Radicaler zu werden.“
Ich ſuchte dieſen Widerſpruch zu löſen, indem ich bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der Vortrefflichkeit ſeiner Lehre und ſeiner Geſetzgebung, und bei der Unmöglichkeit, ſie ohne eine völlige Verände¬ rung des herrſchenden Syſtems in England einzuführen, ſich um ſo mehr von ſeinem leidenſchaftlichen Eifer habe fortreißen laſſen, als er mit der äußern Welt wenig in Berührung komme und die Gefahr eines gewaltſamen Umſturzes nicht zu beurtheilen vermöge.
Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬ ſchaft und mehr Klarheit beſitzt, hat die Ueberſpannung Bentham's nie gebilligt, und iſt weit entfernt geweſen, ſelber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in
<TEI><text><body><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0310"n="288"/>
doppelte Perſon zu betrachten. Ich unterſcheide <hirendition="#g">Ben¬<lb/>
tham das Genie</hi>, das die Prinzipien erſann, die<lb/>
Dumont der Vergeſſenheit entzog, indem er ſie aus¬<lb/>
arbeitete, und <hirendition="#g">Bentham den leidenſchaftlichen<lb/>
Mann</hi>, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die<lb/>
Grenzen ſeiner eigenen Lehre überſchritt und dadurch<lb/>ſowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬<lb/>
calen ward.</p><lb/><p>„Das aber, erwiederte Goethe, iſt eben ein neues<lb/>
Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines<lb/>
langen Lebens damit beſchließen kann, in ſeinen letzten<lb/>
Tagen noch ein Radicaler zu werden.“</p><lb/><p>Ich ſuchte dieſen Widerſpruch zu löſen, indem ich<lb/>
bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der<lb/>
Vortrefflichkeit ſeiner Lehre und ſeiner Geſetzgebung, und<lb/>
bei der Unmöglichkeit, ſie ohne eine völlige Verände¬<lb/>
rung des herrſchenden Syſtems in England einzuführen,<lb/>ſich um ſo mehr von ſeinem leidenſchaftlichen Eifer habe<lb/>
fortreißen laſſen, als er mit der äußern Welt wenig in<lb/>
Berührung komme und die Gefahr eines gewaltſamen<lb/>
Umſturzes nicht zu beurtheilen vermöge.</p><lb/><p>Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬<lb/>ſchaft und mehr Klarheit beſitzt, hat die Ueberſpannung<lb/>
Bentham's nie gebilligt, und iſt weit entfernt geweſen,<lb/>ſelber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat<lb/>
überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's<lb/>
in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[288/0310]
doppelte Perſon zu betrachten. Ich unterſcheide Ben¬
tham das Genie, das die Prinzipien erſann, die
Dumont der Vergeſſenheit entzog, indem er ſie aus¬
arbeitete, und Bentham den leidenſchaftlichen
Mann, der aus übertriebenem Nützlichkeitseifer die
Grenzen ſeiner eigenen Lehre überſchritt und dadurch
ſowohl in der Politik, als in der Religion, zum Radi¬
calen ward.
„Das aber, erwiederte Goethe, iſt eben ein neues
Problem für mich, daß ein Greis die Laufbahn eines
langen Lebens damit beſchließen kann, in ſeinen letzten
Tagen noch ein Radicaler zu werden.“
Ich ſuchte dieſen Widerſpruch zu löſen, indem ich
bemerkte, daß Bentham, in der Ueberzeugung von der
Vortrefflichkeit ſeiner Lehre und ſeiner Geſetzgebung, und
bei der Unmöglichkeit, ſie ohne eine völlige Verände¬
rung des herrſchenden Syſtems in England einzuführen,
ſich um ſo mehr von ſeinem leidenſchaftlichen Eifer habe
fortreißen laſſen, als er mit der äußern Welt wenig in
Berührung komme und die Gefahr eines gewaltſamen
Umſturzes nicht zu beurtheilen vermöge.
Dumont dagegen, fuhr ich fort, der weniger Leiden¬
ſchaft und mehr Klarheit beſitzt, hat die Ueberſpannung
Bentham's nie gebilligt, und iſt weit entfernt geweſen,
ſelber in einen ähnlichen Fehler zu fallen. Er hat
überdieß den Vortheil gehabt, die Prinzipien Bentham's
in einem Lande in Anwendung zu bringen, das in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/310>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.