ich, ist durchaus geeignet uns zu überraschen und uns in Erstaunen zu setzen.
"Es setzt uns allerdings in Erstaunen, erwiederte Goethe, weil unser Standpunkt zu klein ist, als daß wir es übersehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, so würden wir auch diese scheinbaren Abweichungen wahrscheinlich im Umfange des Gesetzes finden. Doch fahren Sie fort und sagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eyer der Kuckuck legen mag?"
Wer darüber etwas mit Bestimmtheit sagen wollte, antwortete ich, wäre ein großer Thor. Der Vogel ist sehr flüchtig, er ist bald hier und bald dort, man findet von ihm in einem einzigen Nest immer nur ein einziges Ey. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß, wo sie hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! --Gesetzt aber, er legte fünf Eyer, und diese würden alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu bewundern, daß die Natur sich entschließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigstens funfzig Junge unserer besten Singvögel zu opfern.
"In dergleichen Dingen, erwiederte Goethe, pflegt die Natur auch in anderen Fällen nicht eben scrupulös zu seyn. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeu¬ den, und sie thut es gelegentlich ohne sonderliches Be¬ denken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jun¬ gen Kuckuck so viele junge Singvögel verloren gehen?"
ich, iſt durchaus geeignet uns zu überraſchen und uns in Erſtaunen zu ſetzen.
„Es ſetzt uns allerdings in Erſtaunen, erwiederte Goethe, weil unſer Standpunkt zu klein iſt, als daß wir es überſehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, ſo würden wir auch dieſe ſcheinbaren Abweichungen wahrſcheinlich im Umfange des Geſetzes finden. Doch fahren Sie fort und ſagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eyer der Kuckuck legen mag?“
Wer darüber etwas mit Beſtimmtheit ſagen wollte, antwortete ich, wäre ein großer Thor. Der Vogel iſt ſehr flüchtig, er iſt bald hier und bald dort, man findet von ihm in einem einzigen Neſt immer nur ein einziges Ey. Er legt ſicherlich mehrere; allein wer weiß, wo ſie hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! —Geſetzt aber, er legte fünf Eyer, und dieſe würden alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, ſo hat man wiederum zu bewundern, daß die Natur ſich entſchließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigſtens funfzig Junge unſerer beſten Singvögel zu opfern.
„In dergleichen Dingen, erwiederte Goethe, pflegt die Natur auch in anderen Fällen nicht eben ſcrupulös zu ſeyn. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeu¬ den, und ſie thut es gelegentlich ohne ſonderliches Be¬ denken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jun¬ gen Kuckuck ſo viele junge Singvögel verloren gehen?“
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ich, iſt durchaus geeignet uns zu überraſchen und uns
in Erſtaunen zu ſetzen.
„Es ſetzt uns allerdings in Erſtaunen, erwiederte
Goethe, weil unſer Standpunkt zu klein iſt, als daß
wir es überſehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet,
ſo würden wir auch dieſe ſcheinbaren Abweichungen
wahrſcheinlich im Umfange des Geſetzes finden. Doch
fahren Sie fort und ſagen Sie mir mehr. Weiß man
denn nicht, wie viele Eyer der Kuckuck legen mag?“
Wer darüber etwas mit Beſtimmtheit ſagen wollte,
antwortete ich, wäre ein großer Thor. Der Vogel iſt
ſehr flüchtig, er iſt bald hier und bald dort, man findet
von ihm in einem einzigen Neſt immer nur ein einziges
Ey. Er legt ſicherlich mehrere; allein wer weiß, wo ſie
hingerathen, und wer kann ihm nachkommen! —Geſetzt
aber, er legte fünf Eyer, und dieſe würden alle fünf
glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern
herangezogen, ſo hat man wiederum zu bewundern,
daß die Natur ſich entſchließen mag, für fünf junge
Kuckucke wenigſtens funfzig Junge unſerer beſten
Singvögel zu opfern.
„In dergleichen Dingen, erwiederte Goethe, pflegt
die Natur auch in anderen Fällen nicht eben ſcrupulös
zu ſeyn. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeu¬
den, und ſie thut es gelegentlich ohne ſonderliches Be¬
denken. Wie aber kommt es, daß für einen einzigen jun¬
gen Kuckuck ſo viele junge Singvögel verloren gehen?“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/236>, abgerufen am 21.11.2024.
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