Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Das möchte ich nicht sagen, erwiederte ich. Es ist
ein Zustand gesteigerter Productivität, der in freier
Luft herrlich von Statten geht, ohne die geringste
Beschwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen
auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬
mücken gehabt, die während der ganzen Mauser ihren
Gesang nicht aussetzten, ein Zeichen, daß es ihnen
durchaus wohl war. Zeigt sich aber ein Vogel im
Zimmer während der Mauser kränklich, so ist daraus
zu schließen, daß er mit dem Futter oder frischer Luft
und Wasser nicht gehörig behandelt worden. Ist er
im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft
und Freiheit, so schwach geworden, daß ihm die pro¬
ductive Kraft fehlt um in die Mauser zu kommen, so
bringe man ihn an die fruchtbare frische Luft, und die
Mauser wird sogleich auf das Beste von Statten gehen.
Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft
sie sich so sanft und so allmälig, daß er es kaum ge¬
wahr wird.

"Aber doch schienen Sie vorhin anzudeuten, versetzte
Goethe, daß die Grasmücken sich während der Mauser
in das Dickicht der Wälder ziehen."

Sie bedürfen während dieser Zeit, erwiederte ich,
allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur
auch in diesem Falle mit solcher Weisheit und Mäßi¬
gung, daß ein Vogel während der Mauser nie mit
einemmale so viele Federn verliert, daß er unfähig

Das möchte ich nicht ſagen, erwiederte ich. Es iſt
ein Zuſtand geſteigerter Productivität, der in freier
Luft herrlich von Statten geht, ohne die geringſte
Beſchwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen
auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬
mücken gehabt, die während der ganzen Mauſer ihren
Geſang nicht ausſetzten, ein Zeichen, daß es ihnen
durchaus wohl war. Zeigt ſich aber ein Vogel im
Zimmer während der Mauſer kränklich, ſo iſt daraus
zu ſchließen, daß er mit dem Futter oder friſcher Luft
und Waſſer nicht gehörig behandelt worden. Iſt er
im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft
und Freiheit, ſo ſchwach geworden, daß ihm die pro¬
ductive Kraft fehlt um in die Mauſer zu kommen, ſo
bringe man ihn an die fruchtbare friſche Luft, und die
Mauſer wird ſogleich auf das Beſte von Statten gehen.
Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft
ſie ſich ſo ſanft und ſo allmälig, daß er es kaum ge¬
wahr wird.

„Aber doch ſchienen Sie vorhin anzudeuten, verſetzte
Goethe, daß die Grasmücken ſich während der Mauſer
in das Dickicht der Wälder ziehen.“

Sie bedürfen während dieſer Zeit, erwiederte ich,
allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur
auch in dieſem Falle mit ſolcher Weisheit und Mäßi¬
gung, daß ein Vogel während der Mauſer nie mit
einemmale ſo viele Federn verliert, daß er unfähig

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <pb facs="#f0206" n="184"/>
          <p>Das möchte ich nicht &#x017F;agen, erwiederte ich. Es i&#x017F;t<lb/>
ein Zu&#x017F;tand ge&#x017F;teigerter Productivität, der in freier<lb/>
Luft herrlich von Statten geht, ohne die gering&#x017F;te<lb/>
Be&#x017F;chwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen<lb/>
auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬<lb/>
mücken gehabt, die während der ganzen Mau&#x017F;er ihren<lb/>
Ge&#x017F;ang nicht aus&#x017F;etzten, ein Zeichen, daß es ihnen<lb/>
durchaus wohl war. Zeigt &#x017F;ich aber ein Vogel im<lb/>
Zimmer während der Mau&#x017F;er kränklich, &#x017F;o i&#x017F;t daraus<lb/>
zu &#x017F;chließen, daß er mit dem Futter oder fri&#x017F;cher Luft<lb/>
und Wa&#x017F;&#x017F;er nicht gehörig behandelt worden. I&#x017F;t er<lb/>
im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft<lb/>
und Freiheit, &#x017F;o &#x017F;chwach geworden, daß ihm die pro¬<lb/>
ductive Kraft fehlt um in die Mau&#x017F;er zu kommen, &#x017F;o<lb/>
bringe man ihn an die fruchtbare fri&#x017F;che Luft, und die<lb/>
Mau&#x017F;er wird &#x017F;ogleich auf das Be&#x017F;te von Statten gehen.<lb/>
Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;anft und &#x017F;o allmälig, daß er es kaum ge¬<lb/>
wahr wird.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Aber doch &#x017F;chienen Sie vorhin anzudeuten, ver&#x017F;etzte<lb/>
Goethe, daß die Grasmücken &#x017F;ich während der Mau&#x017F;er<lb/>
in das Dickicht der Wälder ziehen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Sie bedürfen während die&#x017F;er Zeit, erwiederte ich,<lb/>
allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur<lb/>
auch in die&#x017F;em Falle mit &#x017F;olcher Weisheit und Mäßi¬<lb/>
gung, daß ein Vogel während der Mau&#x017F;er nie mit<lb/>
einemmale &#x017F;o viele Federn verliert, daß er unfähig<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0206] Das möchte ich nicht ſagen, erwiederte ich. Es iſt ein Zuſtand geſteigerter Productivität, der in freier Luft herrlich von Statten geht, ohne die geringſte Beſchwerde, ja bei einigermaßen kräftigen Individuen auch vollkommen gut im Zimmer. Ich habe Gras¬ mücken gehabt, die während der ganzen Mauſer ihren Geſang nicht ausſetzten, ein Zeichen, daß es ihnen durchaus wohl war. Zeigt ſich aber ein Vogel im Zimmer während der Mauſer kränklich, ſo iſt daraus zu ſchließen, daß er mit dem Futter oder friſcher Luft und Waſſer nicht gehörig behandelt worden. Iſt er im Zimmer im Laufe der Zeit, aus Mangel an Luft und Freiheit, ſo ſchwach geworden, daß ihm die pro¬ ductive Kraft fehlt um in die Mauſer zu kommen, ſo bringe man ihn an die fruchtbare friſche Luft, und die Mauſer wird ſogleich auf das Beſte von Statten gehen. Bei einem Vogel in freier Wildniß dagegen verläuft ſie ſich ſo ſanft und ſo allmälig, daß er es kaum ge¬ wahr wird. „Aber doch ſchienen Sie vorhin anzudeuten, verſetzte Goethe, daß die Grasmücken ſich während der Mauſer in das Dickicht der Wälder ziehen.“ Sie bedürfen während dieſer Zeit, erwiederte ich, allerdings einiges Schutzes. Zwar verfährt die Natur auch in dieſem Falle mit ſolcher Weisheit und Mäßi¬ gung, daß ein Vogel während der Mauſer nie mit einemmale ſo viele Federn verliert, daß er unfähig

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/206
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/206>, abgerufen am 21.11.2024.