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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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keine Spur seh, daß er je die Linie der Convenienz
überschritten habe."

Erinnern sich Euer Excellenz, sagte ich, des kleinen
Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen
Königin von Schweden, die artige Liebeserklärung macht,
indem er sagt, daß er sich im Traum zum Rang der
Könige habe erhoben gesehen?

"Es ist eins seiner vorzüglichsten, sagte Goethe,
indem er recitirte:

Je vous aimais princesse et j'osais vous le dire,
Les Dieux a mon reveil ne m'ont pas tout ote,
Je n'ai perdu que mon empire.
Ja, das ist artig! -- Und dann, fuhr Goethe fort, hat
es wohl nie einen Poeten gegeben, dem sein Talent
jeden Augenblick so zur Hand war wie Voltaire. Ich
erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum
Besuch bey seiner Freundin Du Chatelet gewesen
war, und in dem Augenblick der Abreise, als schon der
Wagen vor der Thüre steht, einen Brief von einer gro¬
ßen Anzahl junger Mädchen eines benachbarten Klosters
erhält, die zum Geburtstag ihrer Äbtissin den Tod Ju¬
lius Cäsars aufführen wollen und ihn um einen Prolog
bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn
ablehnen konnte; schnell läßt er sich daher Feder und
Papier geben, und schreibt stehend auf dem Rande eines
Kamins das Verlangte. Es ist ein Gedicht von etwa
zwanzig Versen, durchaus durchdacht und vollendet,

keine Spur ſeh, daß er je die Linie der Convenienz
uͤberſchritten habe.“

Erinnern ſich Euer Excellenz, ſagte ich, des kleinen
Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen
Koͤnigin von Schweden, die artige Liebeserklaͤrung macht,
indem er ſagt, daß er ſich im Traum zum Rang der
Koͤnige habe erhoben geſehen?

„Es iſt eins ſeiner vorzuͤglichſten, ſagte Goethe,
indem er recitirte:

Je vous aimais princesse et j'osais vous le dire,
Les Dieux à mon reveil ne m'ont pas tout oté,
Je n'ai perdu que mon empire.
Ja, das iſt artig! — Und dann, fuhr Goethe fort, hat
es wohl nie einen Poeten gegeben, dem ſein Talent
jeden Augenblick ſo zur Hand war wie Voltaire. Ich
erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum
Beſuch bey ſeiner Freundin Du Chatelet geweſen
war, und in dem Augenblick der Abreiſe, als ſchon der
Wagen vor der Thuͤre ſteht, einen Brief von einer gro¬
ßen Anzahl junger Maͤdchen eines benachbarten Kloſters
erhaͤlt, die zum Geburtstag ihrer Äbtiſſin den Tod Ju¬
lius Caͤſars auffuͤhren wollen und ihn um einen Prolog
bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn
ablehnen konnte; ſchnell laͤßt er ſich daher Feder und
Papier geben, und ſchreibt ſtehend auf dem Rande eines
Kamins das Verlangte. Es iſt ein Gedicht von etwa
zwanzig Verſen, durchaus durchdacht und vollendet,

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[50/0060] keine Spur ſeh, daß er je die Linie der Convenienz uͤberſchritten habe.“ Erinnern ſich Euer Excellenz, ſagte ich, des kleinen Gedichtes, wo er der Prinzeß von Preußen, nachherigen Koͤnigin von Schweden, die artige Liebeserklaͤrung macht, indem er ſagt, daß er ſich im Traum zum Rang der Koͤnige habe erhoben geſehen? „Es iſt eins ſeiner vorzuͤglichſten, ſagte Goethe, indem er recitirte: Je vous aimais princesse et j'osais vous le dire, Les Dieux à mon reveil ne m'ont pas tout oté, Je n'ai perdu que mon empire. Ja, das iſt artig! — Und dann, fuhr Goethe fort, hat es wohl nie einen Poeten gegeben, dem ſein Talent jeden Augenblick ſo zur Hand war wie Voltaire. Ich erinnere mich einer Anekdote, wo er eine Zeitlang zum Beſuch bey ſeiner Freundin Du Chatelet geweſen war, und in dem Augenblick der Abreiſe, als ſchon der Wagen vor der Thuͤre ſteht, einen Brief von einer gro¬ ßen Anzahl junger Maͤdchen eines benachbarten Kloſters erhaͤlt, die zum Geburtstag ihrer Äbtiſſin den Tod Ju¬ lius Caͤſars auffuͤhren wollen und ihn um einen Prolog bitten. Der Fall war zu artig, als daß Voltaire ihn ablehnen konnte; ſchnell laͤßt er ſich daher Feder und Papier geben, und ſchreibt ſtehend auf dem Rande eines Kamins das Verlangte. Es iſt ein Gedicht von etwa zwanzig Verſen, durchaus durchdacht und vollendet,

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/60>, abgerufen am 07.05.2024.