Innersten beglückt sey. Der Graf interessirte sich beson¬ ders für den Faust und dessen Fortsetzung, über welche Dinge er sich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt.
Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck et¬ was lesen würde, und so geschah es auch. Die Gesell¬ schaft begab sich sehr bald in ein entfernteres Zimmer, und nachdem jeder es sich in einem weiten Kreis auf Stühlen und Sopha's zum Anhören bequem gemacht, las Tieck den Clavigo.
Ich hatte das Stück oft gelesen und empfunden, doch jetzt erschien es mir durchaus neu, und that eine Wirkung wie fast nie zuvor. Es war mir, als hörte ich es vom Theater herunter, allein besser; die einzelnen Charactere und Situationen waren vollkommener ge¬ fühlt; es machte den Eindruck einer Vorstellung, in der jede Rolle ganz vortrefflich besetzt worden.
Man könnte kaum sagen, welche Partieen des Stückes Tieck besser gelesen, ob solche, in denen sich Kraft und Leidenschaft der Männer entwickelt, ob ruhig klare Ver¬ standes-Scenen, oder ob Momente gequälter Liebe. Zu dem Vortrag letzterer Art standen ihm jedoch ganz be¬ sondere Mittel zu Gebot. Die Scene zwischen Marie und Clavigo tönet mir noch immer vor den Ohren; die gepreßte Brust, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halb erstickte Worte und Laute, das Hau¬ chen und Seufzen eines in Begleitung von Thränen heißen Athems, alles dieses ist mir noch vollkommen
Innerſten begluͤckt ſey. Der Graf intereſſirte ſich beſon¬ ders fuͤr den Fauſt und deſſen Fortſetzung, uͤber welche Dinge er ſich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt.
Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck et¬ was leſen wuͤrde, und ſo geſchah es auch. Die Geſell¬ ſchaft begab ſich ſehr bald in ein entfernteres Zimmer, und nachdem jeder es ſich in einem weiten Kreis auf Stuͤhlen und Sopha's zum Anhoͤren bequem gemacht, las Tieck den Clavigo.
Ich hatte das Stuͤck oft geleſen und empfunden, doch jetzt erſchien es mir durchaus neu, und that eine Wirkung wie faſt nie zuvor. Es war mir, als hoͤrte ich es vom Theater herunter, allein beſſer; die einzelnen Charactere und Situationen waren vollkommener ge¬ fuͤhlt; es machte den Eindruck einer Vorſtellung, in der jede Rolle ganz vortrefflich beſetzt worden.
Man koͤnnte kaum ſagen, welche Partieen des Stuͤckes Tieck beſſer geleſen, ob ſolche, in denen ſich Kraft und Leidenſchaft der Maͤnner entwickelt, ob ruhig klare Ver¬ ſtandes-Scenen, oder ob Momente gequaͤlter Liebe. Zu dem Vortrag letzterer Art ſtanden ihm jedoch ganz be¬ ſondere Mittel zu Gebot. Die Scene zwiſchen Marie und Clavigo toͤnet mir noch immer vor den Ohren; die gepreßte Bruſt, das Stocken und Zittern der Stimme, abgebrochene, halb erſtickte Worte und Laute, das Hau¬ chen und Seufzen eines in Begleitung von Thraͤnen heißen Athems, alles dieſes iſt mir noch vollkommen
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Innerſten begluͤckt ſey. Der Graf intereſſirte ſich beſon¬
ders fuͤr den Fauſt und deſſen Fortſetzung, uͤber welche
Dinge er ſich mit mir eine Weile lebhaft unterhielt.
Man hatte uns Hoffnung gemacht, daß Tieck et¬
was leſen wuͤrde, und ſo geſchah es auch. Die Geſell¬
ſchaft begab ſich ſehr bald in ein entfernteres Zimmer,
und nachdem jeder es ſich in einem weiten Kreis auf
Stuͤhlen und Sopha's zum Anhoͤren bequem gemacht,
las Tieck den Clavigo.
Ich hatte das Stuͤck oft geleſen und empfunden,
doch jetzt erſchien es mir durchaus neu, und that eine
Wirkung wie faſt nie zuvor. Es war mir, als hoͤrte
ich es vom Theater herunter, allein beſſer; die einzelnen
Charactere und Situationen waren vollkommener ge¬
fuͤhlt; es machte den Eindruck einer Vorſtellung, in der
jede Rolle ganz vortrefflich beſetzt worden.
Man koͤnnte kaum ſagen, welche Partieen des Stuͤckes
Tieck beſſer geleſen, ob ſolche, in denen ſich Kraft und
Leidenſchaft der Maͤnner entwickelt, ob ruhig klare Ver¬
ſtandes-Scenen, oder ob Momente gequaͤlter Liebe. Zu
dem Vortrag letzterer Art ſtanden ihm jedoch ganz be¬
ſondere Mittel zu Gebot. Die Scene zwiſchen Marie
und Clavigo toͤnet mir noch immer vor den Ohren; die
gepreßte Bruſt, das Stocken und Zittern der Stimme,
abgebrochene, halb erſtickte Worte und Laute, das Hau¬
chen und Seufzen eines in Begleitung von Thraͤnen
heißen Athems, alles dieſes iſt mir noch vollkommen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/39>, abgerufen am 24.11.2024.
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